Tschernobyl 2008 – die 1. Expedition

Stellt euch eine Stadt mit 50000 Einwohnern vor. Eine Stadt, deren gesamte Bevölkerung im Verlauf eines Abend ihre Wohnungen verlassen musste. Für immer. Willkommen in den Geisterstädten – Prypjat und Tschernobyl.

DIE KATASTROPHE

Zuerst einige Worte über Tschernobyl und die Katastrophe selbst. Am 26. April 1986 geschah die größte Katastrophe in der Geschichte der Kernkraft. Überhitzung, eine partielle Kernschmelze und eine Wasserstoffexplosion traten als Folge einer Störung im Kühlsystem auf. Dies ließ radioaktives Material aus dem Inneren des Reaktors direkt in die Atmosphäre und das Gebiet um das Kraftwerk austreten. In direkter Folge der Katastrophe starben 30 Menschen, über 200 erkrankten an der Strahlenkrankheit und aus einem Radius von 30 km um das Kraftwerk wurden über 130000 Menschen evakuiert, was eine geschlossene Schutzzone schuf. Die indirekten Folgen und die Langzeitwirkungen des Unfalls sind bis heute noch immer unbekannt.

DIE STRAHLUNG

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist das Strahlungsniveau nicht so hoch wie im Moment der Explosion. Es ist genug, um sich nicht von den Asphaltwegen zu entfernen, die weniger verstrahlt sind, und nirgendwo sonst hinzugehen, wohin man nicht gehen sollte. Jedoch sollte man wissen, dass es in der Zone Orte gibt an denen man nur einige hundert Meter gehen muss, um versehentlich eine hohe Strahlendosis zu erhalten. Und so mache ich in der Zone einen neuen Freund – Geiger. Der Geigerzähler, um exakt zu sein. Ohne diesen ist es gut möglich irgendwo zu enden, wo man nicht sein sollte. Es gibt viele unbekannte Orte in der Zone, wo radioaktiver Abfall vergraben wurde. Es ist ebenso wissenswert, dass Gras und Moos, welche überall üppig wachsen, hunderte Male radioaktiver sind als der Asphalt. Den Geigerzähler in die Nähe des Mooses zu bringen, führt dazu, dass dieser sofort stoppt. Der Zähler ist nicht in der Lage eine so hohe Radioaktivität zu messen und blockiert einfach. Daher lohnt es sich seltsam aussehendes und leuchtend grünes Moos und Gras zu vermeiden …

Und es ist am sichersten den Geigerzähler stets bei sich zu haben und ihn die ganze Zeit eingeschaltet zu haben.

Bevor wir uns an die Fakten machen, müssen wir einige grundlegende Dinge erklären:

1 Röntgen (R) = 1000 Milliröntgen (mR) = 1000000 Mikroröntgen (μR)

Die durchschnittliche Strahlung in einer normalen Stadt beträgt 15 μR/h.

Die durchschnittliche Strahlung in der Zone variiert zwischen 50 und 500 μR/h.

Es wird angenommen, dass es dann eine kleine, ungefährliche Dosis ist, wenn sie nicht 100 mR/Jahr übersteigt. Eine tödliche Dosis liegt bei ungefähr 500 R/h in ca. 5 Stunden.

Jene, die schnell zusammenzählen können, können sich davon überzeugen, dass trotz des Übersteigens der Dosis um einige Male, ein Aufenthalt in der Zone relativ sicher ist. Aber der wichtigste Faktor neben dem Strahlungsniveau ist die Zeit. Daher sollte man in der Zone für einen relativ kurzen Zeitraum bleiben, der nicht die ungefährliche, jährliche Dosis überschreitet, die jeder von uns normalerweise aufnimmt. Zumindest in der Theorie. Jedoch gibt es immer noch den allgegenwärtigen Staub, der radioaktive Partikel enthalten kann. Daher lohnt es sich eine spezielle Schutzmaske mitzunehmen.

DIE ZONE

Um in die Zone zu gelangen, ist es nötig, sich eine Spezialgenehmigung zu beschaffen.

Der erste Ort mit dem wir Glück hatten, waren das Kraftwerk selbst und der Reaktor Nr. 4, in dem der Unfall geschah. Aktuell wird der Reaktor von einem Spezialsarkophag aus Beton umhüllt, der das Entweichen von Strahlung begrenzt. Die Lebensdauer des Sarkophages wurde für ein Dutzend Jahre berechnet und so ist es notwendig einen anderen zu bauen, einen noch größeren, der den alten bedecken wird. Der jetzige Sarkophag droht jeden Augenblick zusammenzustürzen und dadurch mehr Strahlung freizusetzen. Angeblich soll die Arbeit am Sarkophag nächstes Jahr beginnen. Dies ist damit die letzte Möglichkeit, das Kraftwerk zu besichtigen.

Nach einer Weile beginnt der Geigerzähler gefährlich zu kreischen – ein Anzeichen, dass das Strahlungsniveau zu hoch ist (500 μR/h). Wir ziehen uns deshalb zum Auto zurück und fahren weg. Man sollte hier nicht zu lange bleiben. Unser Hauptziel ist die verlassene Stadt Prypjat.

Auf dem Weg fahren wir am sogenannten Roten Wald vorbei, einen Ort, den niemand zu betreten wagt. Nach der Explosion ging die größte Wolke aus radioaktivem Staub genau durch diese Region. Im Handumdrehen wurden die Bäume rot und blieben rot. Sie wurden später vergraben und an ihrer Stelle wächst ein neuer grüner Wald. Strahlung jedoch, kann nicht begraben werden. Weiterhin qualifiziert das Strahlungsniveau diesen Ort zu einem der toxischsten Orte der Welt. Wir bleiben nicht stehen, denn der Geigerzähler heult wie verrückt. Auf dem Weg halten wir wieder beim Fluss, wo wir verlassene, halb versunkene, verrostete Geisterschiffe sehen. Sie sind so verstrahlt, dass sie sich nicht mehr zur Nutzung eignen.

PRYPJAT – GEISTERSTADT

Prypjat, einst eine Stadt mit fast 50000 Menschen, jetzt verlassen, oft als Geisterstadt bezeichnet. Sie wurde speziell für die Arbeiter des Kraftwerks und ihre Familien gebaut. Sie liegt nur 3 Kilometer entfernt. Die Stadt, zu dieser Zeit Teil der UdSSR, ist sehr jung – sie wurde 1970 gegründet. Sie besteht im Prinzip aus einzelnen Häusern und Wohnblöcken aus sogenannten Bauplatten. Blöcke der Art wie sie in polnischen Wohnsiedlungen zu finden sind, nur sehr viel größer.

In der Zeit vor dem Unfall schuf die Verwaltung angenehme Lebensbedingungen für die Familien, von denen die Mehrheit im nahen Kernkraftwerk arbeitete. Es gab mehrere Schulen, Kindergärten, Cafés, ein Krankenhaus, ein Kulturzentrum, ein Schwimmbad, ein Kino, ein Theater und sogar einen Vergnügungspark mit einem großen Riesenrad. Alle notwendigen Einrichtungen befanden sich in der Stadt. Eine wirklich große und unabhängige Stadt. Es fehlte nur eine Kirche, aber das ist nicht wirklich verwunderlich. Eine echte sozialistische Perle. Es schien, dass die hier lebenden Menschen im Kontrast zu anderen Städten in der UdSSR ein idyllisches und angenehmes Leben führten. Das ist wahr. Jedoch würde sich dies bald ändern …

Nur 36 Stunden nach der Explosion wurde die Entscheidung getroffen, die Stadt zu evakuieren. 36 Stunden zu spät. Zum Zweck einer schnellen und effizienten Evakuierung wurde den Einwohnern weisgemacht, dass es eine temporäre Evakuierung sei. Dass sie schnell zurückkehren. Und so nahm niemand seine Sachen mit sich. Innerhalb mehrerer Stunden wurden tausende Menschen aus der Stadt evakuiert. Die Kolonne aus 1125 Bussen, die die Zone verließen, war über 20 Kilometer lang. Die Stadt hörte auf zu leben. Sie starb.

Heute nimmt sich die Natur langsam, aber systematisch das zurück, was ihr einst genommen wurde. Die Natur zieht langsam in jeden Winkel der Stadt. Bäume wachsen langsam höher als die Gebäude, bedecken die Wege und wachsen sogar in Räumen. Wie ein kleineres Angkor Wat oder, wenn man möchte, wie Pompeji. Die ersten Bewohner werden erst wieder in 600 Jahren in der Stadt leben können, weil dann die radioaktiven Partikel zerfallen. Es bleiben nur noch 578 Jahre übrig …

Der Zutritt zur Stadt ist nur mit dem Vorzeigen einer Spezialgenehmigung möglich. Im Vorbeigehen sehen wir am Wachhaus eine Uhr, die das Strahlungsniveau anzeigt – 54 μR/h. Das ist nicht schlecht. Wir gewöhnen uns an die Tatsache, dass die allgegenwärtigen Uhren das Strahlungsniveau anstatt der Uhrzeit anzeigen.

Nach einer Weile sind wir auf dem Hauptplatz der Stadt. Das Stadtzentrum. Auf der einen Seite ist ein Geschäft, ein Hotel, ein Kulturzentrum, dahinter der Vergnügungspark und überall sind Wohnhäuser. Das erste, was wir bemerken, ist die durchdringende Leere und Stille, nur unterbrochen durch das Rauschen der Bäume. Ein seltener Anblick – nur Gebäude um uns herum und keine Menschenseele. Angeblich wohnen irgendwo in diesem Gebiet zwei Leute in ihren 80ern, die aus unbekannten Gründen, es geschafft haben zurückzukehren und sich in der Stadt wieder angesiedelt haben. Sie bevorzugen es, eher ihre Gesundheit und sogar ihr Leben zu gefährden als es zu riskieren, die Stadt zu verlassen. Aber wohin? Sie sind schon alt. Sie haben sich damit abgefunden. Es ist nicht leicht sie oder den Rest zu treffen. Das ist seltsam in einer Stadt, in der einst fast 50000 Menschen lebten.

Auf den ersten Blick sieht die Stadt wie jede andere aus. Während wir durch die Stadt gehen, haben wir den Eindruck, dass plötzlich jemand um die Ecke kommen wird, in einem Auto vorbeifahren wird, das Riesenrad sich drehen wird. Dass gleich ein Kind zu dem vergessenen Plüschbären am Riesenrad zurückkommen wird. Tausende Fenster sind überall geöffnet, doch niemand ist hinter ihnen, man kann nur den Wind hören. Und die Stille. Manchmal nervenaufreibend. Andere sagen ohrenbetäubend.

Wir beginnen unseren Spaziergang durch die Stadt vom Eingang zum Dach des höchsten Gebäudes der Stadt. Wir überwinden schnell die 16 Stockwerke und stehen auf dem Dach als wären wir hypnotisiert. Es ist ein seltsam bewegender Anblick. Die ganze Stadt, klar vor uns und in der Ferne der Reaktor – der Grund für den Exodus von Tausenden Bewohnern aus der Stadt.

Nach einer Weile entscheiden wir uns, in einige Gebäude zu gehen. Die meisten wertvollen Gegenstände sind aus dem Inneren verschwunden. Für über 20 Jahre haben Plünderer ihre Arbeit getan und die meisten der gestohlenen Gegenständen tauchten bald im An- und Verkauf sowie auf den Märkten im nahen Kiew auf.

Das erste, was wir sehen beim Betreten der Schule sehen, ist die Garderobe. Ausgehend von der Größe und der Anzahl von Haken, die wir dort finden, schätzen wir die Größe der Schule. Sie muss groß gewesen sein. Überall in der Schule sind Zeichen der sowjetischen Vorherrschaft sichtbar: rote Flaggen, Spruchbänder, Sterne, Portraits von Lenin. Man kann die Vorbereitungen für den Tag der Arbeit sehen, der herangenaht war. In der Schulbibliothek liegen Tausende von Büchern durcheinander. Die Bücher liegen übereinander verteilt und bilden einen Berg wie keinen anderen. Im nächsten Raum, wahrscheinlich das Lesezimmer, finden wir einige Zeitungen verstreut. Ein bisschen vergilbt, aber perfekt lesbar. Auf einigen von ihnen finden wir das Datum genau einen Tag vor der Katastrophe. April 1986. Genau vor der Katastrophe…

Aus den Stundenbüchern und rot linierten Karten mit Noten schließen wir, dass wir im nächsten Raum im Lehrerzimmer sind. Wir sehen die Bücher mit den Namen und Noten der Schüler, die ihre Ausbildung in dieser Schule vorzeitig beenden mussten. Im nächsten Zimmer finden wir Gasmasken verstreut.

Ihre seltsame kleine Größe zieht unsere Aufmerksamkeit an. Wir begreifen es sofort – sie sind für Kinder.

Der nächste Raum ist das Musikzimmer. Notenhefte, ein kaputtes Klavier, Arbeitsbücher überall. Wir verlassen die Schule und gehen zur Sporthalle. Der alte, verfallene Boden macht es unmöglich sicher durch die Halle zu laufen. Die Basketbälle, die überall herumliegen, und am Rand, das Podium auf welchem einst jemand zum Sieger erklärt wurde, ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich.

Nach der Schule besichtigen wir das Krankenhaus. Überall verstreut kann man Medizin, Reagenzgläser und viele verschiedene Stücke der medizinischen Ausstattung sehen. In einem Raum sind die Reste eines Entbindungsstuhls und draußen, ein gynäkologischer Stuhl. In einigen Räumen kann man ganze Wände sehen, deren Kacheln entfernt wurden. Kacheln sind Waren – sie konnten verkauft werden.

Das Schwimmbecken – riesig, mit einem Sprungbrett. Auf dem Grund des Beckens bemerken wir, dass noch immer Flossen dort liegt. Eine große Konzerthalle in der Musikschule. Ein Klavier auf der Bühne. Staubig, mit einigen Schäden, aber noch immer funktionstüchtig. Wir fragen uns, warum es noch niemand gestohlen hat. War es zu groß? In der Etage darüber, ein weiteres Klavier, auf der Seite liegend. Vielleicht hat jemand versucht es hochzuheben.

Am Abend kehren wir nach Tschernobyl zurück, wo wir die ganze Nacht verbringen werden. Das aktuelle Strahlungsniveau in der Stadt ist normal, nicht anders als der Durchschnitt in Polen. Aber es ist schwierig an einem Ort zu bleiben, daher entscheiden wir uns, zu schauen wie die Stadt bei Nacht aussieht. Die Warnung der vorbeigehenden Militärpatrouille vor Wolfsrudeln und Wildschweinrotten, die nicht nur durch die nahen Wälder, sondern auch durch die Stadt streifen, schreckt uns nicht ab. Wir gehen weiter. Nachts sehen die verstreuten Häuser noch schlimmer aus, gespenstig. (Wir bekommen Gänsehaut, aber hauptsächlich, weil wir uns verlaufen haben.)

Den ganzen nächsten Tag verbringen wir in der Geisterstadt und am Nachmittag verlassen wir die Stadt. Beim Verlassen der Zone findet eine weitere obligatorische Strahlungsuntersuchung statt. Wir steigen aus dem Auto und gehen in einen Spezialraum, wo Spezialmaschinen überprüfen, dass wir nicht kontaminiert wurden. In der Zwischenzeit überprüfen andere Soldaten, dass unser Auto ebenso sauber ist. Glücklicherweise ist alles in Ordnung und wir können die Zone verlassen.

Wir verlassen sie mit dem Verlangen nach mehr. Zwei Tage sind definitiv zu kurz, um all die interessanten Dinge dort zu sehen…

Eine unermessliche Erfahrung, die mit nichts vergleichbar ist. Stille, das Fehlen von Rufen, Lachen, Tränen, und nur der Wind antwortet. Prypjat ist eine riesige Lektion für unsere Generation.

Arkadiusz Podniesiński


FotosTschernobyl 2008

Die zweite Expedition – Tschernobyl 2009

DIE NÄCHSTE REISE ZUR SPERRZONE – Herbst 2011 – Details – arek (at) podniesinski (dot) pl