CHERNOBYL ABSEITS DER AUSGETRETENEN TOURISTENPFADE

Die Herbst-Fotoreportage wird nicht so aufregend ausfallen wie die Vorhergehende. Sie beinhaltet keine Suchaktionen nach radioaktivem Material. Auch gefährliche Kletterstunts wird es keine geben. Der Film ist fertig gestellt, also bin ich zum Ursprung zurückgekehrt: zur Fotografie. Die letzten zwei Jahre hindurch habe ich mich mit dem Filmen beschäftigt, doch dieses Mal bin ich nur mit einer Kamera in der Hand zurückgekehrt. Ich erlebe dadurch diesen Ort wieder aus einer gänzlich neuen Perspektive. Ich konzentriere mich auf die Details, auf die zu achten ich während dem Filmen nur sehr wenig Zeit hatte. So halte ich mit meiner Digitalkamera Orte fest, die bald verschwinden werden. Und dann versuche ich, die Geschichten hinter den Bildern aufzudecken. Dieses Mal lasse ich die Bilder für sich selbst sprechen. Und Ihre Vorstellungskraft wird Sie mitreißen.

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27 Jahre nach der Evakuierung der Stadt ist nur noch etwa die Hälfte der Buntglasfenster im Café „Pripyat“ übrig. Jedes Jahr sehe ich weniger und weniger davon. Es erfüllt mich mit Traurigkeit zu sehen, wie man sie verfallen lässt. Sie hätten ein wertvolles Ausstellungsstück im Chernobyl Museum werden können, ein Symbol des künstlerischen Geistes von Pripyat, oder einfach ein Ausdruck der bemerkenswerten Gestaltungstechniken der Geisterstadt. Lange Zeit habe ich auf den perfekten Moment gewartet, sie bei strahlendem Sonnenschein zu fotografieren, um das Glitzern und den Schein der Sonnenstrahlen festzuhalten, die durch das aufwändig gestaltete Buntglas scheinen. Um ihnen ein wenig Leben einzuhauchen. Doch das trübe Wetter, die falsche Tageszeit, der Mangel an Sonnenschein, oder sogar das Laub an den Bäumen – irgendetwas stellte sich jedes Mal als Hindernis heraus. Dieses Mal jedoch war das Glück auf meiner Seite. Das bunte Glas ist hinreißend, wenn seine Farben das durch sie hindurchscheinende Licht sättigen. Aus der Ferne betrachtet, erinnert mich das – in tausende dünne lange Streifen geschnittene – Glas an einen Wandteppich. Seit einiger Zeit versuche ich, Informationen über den Urheber dieser fantastischen Fenster zu finden. Naturgemäß führte die Spur zu Ivan Litowtschenko, dem alle Mosaike in Pripyat zu verdanken sind, inklusive dem großartigen 'Musik’, das an der Fassade der Musikschule zu finden ist. Mit dem Titel „Verdienstvoller Künstler der Ukraine“ ausgestattet, arbeitete Litowtschenko fast bis zur Katastrophe in Pripyat. Unglücklicherweise starben er und seine Frau 1996, was es schwierig macht, meine Vermutungen zu verifizieren, oder Hilfe bei der Suche nach dem tatsächlichen Urheber zu erhalten. Doch ich habe die Suche nicht aufgegeben, und falls jemand mit Informationen dienen kann, so kontaktieren Sie mich bitte.

In Pripyat habe ich die Gelegenheit, den unvollendeten Block 5 zu betreten, um zu sehen, wie weit die Arbeiten zur Demontage des Gebäudes schon vorangeschritten waren. Eigentlich war ich der Meinung, dort bereits alles gesehen zu haben, doch neben der riesigen Reaktorhalle fällt mir eine massive Stahltür auf, die in Teile des Gebäudes führt, in denen ich noch nie zuvor gewesen bin.

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Reaktorhalle.

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Auf meiner Suche nach neuen Orten kehre ich auch in den Hafen von Chornobyl zurück. Ich habe vor, zu den verlassenen Schiffen auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens zu gelangen. Dort finde ich zwar nur ein Einziges, doch dieses dafür in einem Stück. Das könnte gut und gerne das letzte intakte Wrack sein, das noch nicht für den Altmetallhandel in Stücke geschnitten wurde.

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Zu den restlichen Schiffen gelangt man nur über eine kleine Insel in der Mitte der Bucht. Um dorthin zu gelangen, ist man auf die Hilfe der Fischer angewiesen, die sich ganz in der Nähe aufhalten. Vermutlich handelt es sich dabei um gewöhnliche Arbeiter aus der Zone, die beschlossen haben, in ihrer Freizeit ein paar Fische zu fangen, um sie nach Hause zu nehmen. Als sie ans Ufer kommen, frage ich nach, was sie denn gefangen hätten. Sie zeigen mir zwei mit Fischen gefüllte Säcke. Auf die Frage, ob sie denn keine Angst vor einer möglichen Kontamination der Fische hätten, schüttelt einer von ihnen nur lächelnd den Kopf.

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Auch Chernobyl-2 statte ich wieder einen Besuch ab. Dieses Mal konzentriere ich mich nicht auf die großen Antennen und das Kommandozentrum, sondern auf die Hütten, in denen die gewöhnlichen Soldaten lebten.

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Ein Band der 55-bändigen Ausgabe der Gesammelten Werke Lenins (mehrere Dutzend weitere Bände liegen in seiner Nähe).

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Wäschetrockner.

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Waffenlager.

Auf der Suche nach Spuren der Tragödie entferne ich mich mehr und mehr von Pripyat. Ich erreiche die entlegensten Ecken der Zone. Vergessene Dörfer, Häuser, Bauernhöfe. Noch unentdeckt von Touristenscharen. So gelange ich zur nördlichen Zonengrenze. Direkt an der ukrainisch-weißrussischen Grenze liegt das Dorf Maschewo. Auf dem Weg dorthin mache ich noch einmal Halt im Dorf Krasne, um einige beeindruckende Bilder von der verlassenen Kirche zu machen.

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Die interessantesten Siedlungen liegen ein paar Dutzend Kilometer von Chornobyl entfernt. Nicht viele Menschen haben die Zeit oder überhaupt erst die Lust, sie zu besuchen. Der Großteil konzentriert sich ausschließlich auf Pripyat. Zum Glück wissen sie nicht, dass Pripyat nicht die einzige verlassene Siedlung in der Sperrzone ist. Oder vielleicht sind ihnen 50 km auch einfach nur zu weit? Auf dem Weg westwärts von Pripyat gelange ich in die Stadt Poliske.

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Im Gegensatz zum eigens für die Arbeiter des Kernkraftwerks erbauten Pripyat geht die erste schriftliche Erwähnung von Poliske (das früher „Chabno“ und „Kaganowicze“ hieß) auf das Jahr 1415 zurück. Nachdem die Stadt weniger stark kontaminiert war als Pripyat, immerhin über 50 km davon entfernt, wurde sie nicht sofort nach der Katastrophe gesperrt. Im Gegenteil: Poliske wurde zum Hauptevakuierungszentrum für die Einwohner von Pripyat.

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Das Stadtzentrum.

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Das Hauptquartier des Exekutivkommittees.

Zum Zeitpunkt der Katastrophe hatte die Stadt über 11.000 Einwohner. Sie verfügte über ein Kino, ein Stadion, ein Hotel, ein Kulturzentrum und eine Sauna (banya). Es mutete fast an wie ein kleines Pripyat, auch wenn seine Größe und Architektur eher der eines kleinen Chornobyl entsprachen. Erst vier Jahre nach dem Desaster begannen die ersten Einwohner, die Stadt zu verlassen. Anfangs wurde dem noch mit Widerstand seitens der Obrigkeiten begegnet, die die Flüchtigen der Panikmache bezichtigten und ihnen mit Parteiausschluss drohten. Man drohte ihnen das sogenannte Wolfsticket an, das es den Flüchtigen unmöglich gemacht hätte, neue Jobs zu finden. Erst in 1993, nach dem Zerfall der Sowjetunion, kamen die tatsächlichen Kontaminationslevel ans Licht, woraufhin die ukrainische Regierung die Umsiedelung der Einwohner beschloss. Sechs Jahre später wurde die Stadt offiziell aus dem Register gestrichen und wurde ein Teil der Sperrzone von Chernobyl. Heute leben nur noch ein paar ältere Menschen in Poliske, die sich gegen eine Flucht aus der Stadt entschlossen haben.

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Wandmalerei im Postamt/Telekommunikationszentrum.

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„1654-1954 – 300 Jahre ukrainisch-russische Einheit.”

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Geschäft für Kinder.

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Kulturzentrum.

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„Mein sonniges Heimatland: jeder Weg ist ein Freund. Dieses Land ist für mich ein PARADIES, diese Stadt nenne ich meine Heimat!” – April 2011, P.J.I.

Obwohl die Stadt erst vor relativ kurzer Zeit geschlossen wurde, ist sie wesentlich schlimmer zerstört als Pripyat. Die alten kleinen Holzhäuser hatten im Vergleich zu den neuen Betonblöcken in Pripyat keine Chance. Die nicht mehr reparierten Holzdächer begannen schnell einzustürzen und begruben unter sich eine Vielzahl historischer Innenausstattungen. Außerdem hatten die Einwohner von Poliske wesentlich mehr Zeit zum Verlassen der Stadt. Sie waren nicht zu überstürzter Flucht gezwungen wie die Einwohner von Pripyat. Sie hatten Zeit, all ihre Wertgegenstände mitzunehmen, ebenso wie all jene Dinge, die man heute noch in Pripyat finden kann – Erinnerungsfotos, Bücher, Möbel und Kleidung. Trotzdem zahlt es sich aus, hier ein wenig Zeit zu verbringen. Ich bin zum ersten Mal hier, und nur für ein paar Stunden. Viel zu kurz, um diese Stadt auch nur annähernd zu erkunden. Ich werde auf jeden Fall hierher zurückkommen.

Ich habe nicht nur Poliske verlassen, sondern auch die Zone. Daran versucht mich eine Herde Przewalski-Pferde zu hindern, die erst die Straße blockieren, um sich dann aus allen Richtungen fotografieren zu lassen. Bisher habe ich der Fauna von Chernobyl in meinen Reportagen nicht sehr viel Platz eingeräumt. Vielleicht wollen sie mir ein Zeichen geben…

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P.S.
Wenn Sie Photograph sind, mindestens 25 Jahre alt und an der nächsten Reise teilnehmen möchten, schicken Sie mir bitte Infos über sich an arek (at) podniesinski (dot) pl .

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