Der Tag des Sieges

Dieses Mal wird es keine künstlerischen Schwarzweißphotographien geben. Es wird außergewöhnliche Dinge geben. Von einem außergewöhnlichen Ort. Dank dem Erhalt einer neuen Erlaubnis konnte fast die Hälfte des 4-tägigen Ausflugs damit verbracht werden, völlig neue Orte zu besuchen, zu denen ein Zugang vorher unmöglich gewesen war. Wir besuchten außerdem einige Orte über deren Existenz nur sehr wenige Leute wissen und die noch weniger gesehen haben. Was unmöglich für eine große 40 Personen starke Gruppe ist, die für 1 oder 2 Tage durch die Zone geht, ist für uns kein Problem. In einer so großen Gruppe ist es unmöglich in so kurzer Zeit selbst alle wichtigen Dinge in Prypjat zu sehen, ganz zu Schweigen davon, die notwendige Erlaubnis zu bekommen, andere, ebenso interessante Gebiete zu sehen. Aber wir werden nicht alle Einzelheiten auf einmal preisgeben, alles zu seiner Zeit …

Zuerst Tschernobyl-2, oder die DUGA Radaranlage, umgangssprachlich bekannt als „das Auge von Moskau“. Dies ist eine sowjetische Überhorizontradaranlage, die nicht mehr in Betrieb ist, aber einst dazu diente eventuelle ballistische Raketen mit Nuklearsprengköpfen, die auf das Territorium der UdSSR zufliegen, zu erfassen. Es war eines der wichtigsten Elemente in einem Frühwarnsystem für den Fall eines Angriffs auf die UdSSR. Leider hörte die Station aufgrund der ionisierenden Strahlung, die durch die Katastrophe von Tschernobyl freigesetzt wurde, auf zu arbeiten. Natürlich, wir waren viele Male beim „Auge“ und somit weiß man, das ist nichts Neues. Dieses Mal jedoch versuchten wir genau die Spitze der Antenne zu erreichen! Es war nicht einfach. Die Antenne ist 135 Meter hoch und der einzige Weg nach oben geht über senkrechte Metallleitern, die alle Dutzend Meter durch die nächste Etage unterbrochen sind. Zusätzlich verursachen die Größe und Form der Antenne und die Tausenden Meter aus Metallleitungen, die darüber führen, ein unglaubliches, metallisch pfeifendes Geräusch, wenn der Wind hindurchweht. Das Pfeifen ist so laut, dass man es von weit, weit weg hören kann. Obwohl es mitten am Tag ist, treffen wir dort auf eine überwältigende Leere; das Pfeifen des Windes und das fortwährende Schlagen der Metallteile der Anlage, die vom Wind, der durch sie weht, bewegt wird, vergrößern das Gefühl des Geheimnisvollen an diesem Ort. Aber dies störte uns nicht und wir begannen zu klettern. Es war notwendig, dies sehr vorsichtig zu tun, da wir uns nicht sicher waren, ob die Leitern korrekt aufgesetzt waren, ob die Verschweißungen halten würden oder ob sich etwas ablösen oder herunterfallen würde. Und nach über einer halben Stunde klettern und einigen Blasen an unseren Händen, erreichten die drei Teilnehmer den Gipfel! Die Ungewöhnlichkeit des Ortes, speziell seine Geschichte, und der atemberaubende Blick von oben belohnten uns für den Aufwand, den es uns kostete, um hierhin zu kommen!

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Nach unserem Abstieg, der kein bisschen einfacher war, begaben wir uns zum nahen Hilfsradar, der als „Circle“ bekannt ist und ungefähr 1 km vom „Auge von Moskau“ entfernt liegt. Aufgrund starken Schneefalls waren wir nicht in der Lage, den Pfad zu finden, der uns das letzte Mal, als wir da waren, dorthin führte. Dieses Mal war es einfach. Und da ich schon die Rückschläge erwähnte, oder die Orte, die wir aus verschiedenen Gründen nicht schafften zu erreichen, sollte ich auch die Hafenkräne erwähnen. Die letzten zwei Versuche, sie zu erreichen, waren erfolglos. Dieses Mal waren wir überrascht wie einfach wir es schafften, dorthin zu gelangen. Alles Dank der Karten und eines neuen Führers, der uns half zu diesen Orten zu gelangen. Wir stießen dort auf 4 riesige Kräne, einer von ihnen war im Wasser. Aus der Nähe sehen sie aus wie 4 riesige Monster aus einem Science-Fiction-Film. Natürlich haben wir uns es nicht entgehen lassen, den Blick von oben von jedem von ihnen auszuprobieren.

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Die nächste Anlage, die wir besuchten, waren die unfertigen Reaktorblöcke 5 und 6. Zum Zeitpunkt der Katastrophe war ihr Bau im Gang und wurde erst 3 Jahre später abgebrochen. Momentan sind Abrissarbeiten im Gange – Metall ist die einzig wertvolle Sache an diesem Ort. Innerhalb des Kraftwerks befinden sich Labyrinthe aus Räumen, Treppen und mehreren dutzend Metern hohen Schächten, die voller Metallinstallationen, Schienen und riesigen Rohren sind. Viele Räume sind durch Stahltüren getrennt, die mehrere Dutzend Zentimeter dick sind. Und überall herum sind mehrere verrostete, unbewegliche Kräne, die hier seit der Katastrophe gestanden haben. Während wir unseren Weg durch das ganze Gebäude schlängeln, suchen wir auch einen Weg, der zum Dach führen würde. Das spezielle, leistungsstarke Licht, welches wir für diesen Anlass mitgenommen haben und welches in der Lage ist, mehrere, sogar große Räume zu beleuchten, erwies sich als sehr nützlich. Schließlich waren wir in der Lage, ein Nebendach zu erreichen und über externe Leitern und Treppen schafften wir es zu den nächsten Etagen bis wir uns schließlich ganz oben befanden. Der Blick vom Dach auf die Reaktoren 1-4 ist nicht nur außergewöhnlich, sondern gibt uns auch eine Übersicht auf die Struktur des Gesamtkomplexes des Kernkraftwerks und all seiner Nebengebäude.

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Das nächste Gebäude war das radiobiologische Labor. Bei unserem letzten Ausflug besuchten wir die Halle, wo sich die Fischbehälter und Tierkäfige befanden. Dieses Mal besuchten wir das Hauptgebäude des Labors, in welchem wir Spuren der Experimente fanden, die hier durchgeführt wurden – übriggebliebene Reagenzgläser, Gefäße mit in Formalin eingelegten Fischen und Teile von Apparaturen für Experimente. Mit den Daten der Tageszeitungen finden wir heraus, dass das Labor noch lange Zeit nach der Katastrophe in Betrieb war.

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Das nächste Gebäude, welches wir besuchten, war das Erholungszentrum für Kinder. Im Wald nahe Prypjat gelegen, fungierte es als Erholungsort für Kinder während der Sommerferien. Dutzende kleiner Holzhäuser, ein Sommerkino und ein Spielhaus – einige hundert Kinder konnten hier auf einmal hinkommen.Viele Häuser zogen mit ihren handbemalten Wänden, meist Helden aus Märchen dieser Zeit zeigend, unsere Aufmerksamkeit auf sich. Viele Malereien sind in einem sehr guten Zustand erhalten und sehen aus, als ob sie erst kürzlich gemacht worden.

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Nachdem wir die Umgebung besucht haben, kehren wir nach Prypjat zurück, wo wir, wie gewöhnlich, den Großteil der wichtigsten Anlagen besuchten, die wir nicht wieder beschreiben werden, da sie in den Berichten der vorherigen Ausflüge beschrieben sind. Viele Leute glauben, dass es in Prypjat sicher ist und das es nicht notwendig ist, Dosimeter zu benutzen, da die Strahlung die gleiche ist wie dort, wo sie alltags leben. Das ist wahr, aber nicht überall. Während des Ausflugs begutachten wir einiger solcher Orte. Orte, von denen sehr wenige Menschen wissen und die noch weniger besucht haben. Und vielleicht ist es deshalb, dass der Großteil der Leute noch immer glaubt, dass die Strahlung in der Zone normal sei. Leider gibt es in Prypjat viele Orte, wo die Strahlung das normale Niveau (die durchschnittliche Dosis) mehrmals übersteigt. Draußen sind es meistens Orte, wo verlassene Fahrzeuge oder Ausrüstung sind, welche halfen die Auswirkungen des Unfalls zu beseitigen – Autos, Planierraupen und viele Arten von Spezialfahrzeugen. Am häufigsten steigt die Strahlung, wenn man sich nur einem Fahrzeug nähert sehr schnell auf ein so hohes Niveau, dass das Dosimeter nicht in der Lage ist sie zu messen und einfach blockiert. Nur Fachausrüstung ist in der Lage das tatsächliche Strahlungsniveau anzuzeigen. Wir besuchten einige solcher Orte.

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Es ist nochmals anders an Orten, die niemals dekontaminiert worden sind. Einer dieser Orte ist der Friedhof in Prypjat. Der Grund für das höhere Strahlungsniveau ist offensichtlich. Es ist schwierig zu dekontaminieren oder die Erde von Orten zu beseitigen, wo Menschen begraben sind. Das Erste, was uns auf diesem verlassenen Friedhof auffällt, sind die bunten Blumen auf einigen der Gräber. Natürlich sind die Blumen künstlich. Sie müssen für eine lange Zeit halten, da der Zugang schwierig ist und das hohe Strahlungsniveau den Leuten nicht erlaubt, diesen Ort sehr oft zu besuchen.

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Aber der Friedhof ist nicht der radioaktivste Ort in Prypjat. Das höchste Strahlungsniveau ist in den geschlossenen Räumen, in denen sich kontaminierte Gegenstände befinden. Wo kein Wind durchweht und kein Regen sie auflösen oder wegwaschen könnte, und so das Strahlungsniveau verringerte. Solche Räume sind zum Beispiel Keller, wo noch immer hochradioaktive Gegenstände sind. Dort können die Strahlendosen bis zu 100 mR/h erreichen und sie sind somit einige tausend Male höher als die Dosen, die als normal betrachtet werden. Sie ohne spezielle Ausbildung, Wissen, Kleidung und Messausrüstung zu betreten, kann sehr gefährlich sein. Ein solcher Ort ist ein Raum in einem Keller in einem der Krankenhäuser. Dort kann man noch immer die Kleidung der Feuerwehrmänner und Arbeiter des Kraftwerks finden, welche gegen die Folgen des Unfalls vom 26. April 1986 kämpften. Das Strahlungsniveau dieses Ortes ist hoch – ungefähr 25 mR/h. Wir fanden dort zurückgelassene Stiefel, Helme, Uniformen und Hauben der Menschen, die am stärksten von den Folgen des Unfalls von Tschernobyl betroffen waren. Viele von ihnen im Krankenhaus erkannten nicht, dass sie nur noch wenige Tage zu leben übrig hatten.
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Wiederum andere Räume waren vollständig sauber und enthielten keine radioaktiven Materialien, und Masken sowie Schutzkleidung waren dort nicht notwendig.

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Am Ende des Ausflugs entschieden wir uns, eines der verlassenen Dörfer zu besuchen. Dutzende von verlassenen Häusern, meist aus Holz. In einigen konnte man noch immer übrige Kleidung oder alte Schwarzweißphotographien finden. Auf einem von diesen sahen wir eine glücklich lächelnde Familie hinter dem Haus stehen. Man muss nicht sonderlich schlau sein, um zu bemerken, dass das Haus in dem Bild das gleiche ist, in welchem wir stehen. Aber die bewegendste Sache war die Entdeckung, dass dort in einigen Häusern noch immer jemand lebte. Dies sind Umsiedler, die zu ihren eigenen Häusern zurückkehrten. In einem dieser Häuser treffen wir eine 82-jährige festlich gekleidete Frau, die uns an der Tür begrüßt. (Dieser Tag fiel auf den Tag des Sieges.)
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Unser Aufenthalt erreichte sein Ende und wir mussten aus der verlassenen Zone aufbrechen. Paradoxerweise war die Zone überhaupt nicht verlassen an diesem Tag. Es war der 9. Mai, ein Sonntag, der Tag des Sieges – der einzige Tag, an dem Ukrainer die Zone (ohne Einschränkungen und ohne Kosten) frei besuchen konnten. Einige besuchten die Häuser, in welchen sie gelebt hatten, andere die Gräber ihrer Angehörigen und andere kamen, um ihre Nachbarn zu treffen. Der Tag des Sieges ist der einzige Tag, an dem die Zone wieder zum Leben erweckt wird. An diesem Tag besuchten Tausende Leute die verlassene Zone und ich hoffe, dass Dank dieses Berichts du in der Lage sein wirst dorthin zu gehen, auch wenn es nur für einen kurzen Augenblick ist.
Arek

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DIE NÄCHSTE REISE ZUR SPERRZONE – Herbst 2011 – Details – arek (at) podniesinski (dot) pl

Tschernobyl bei Nacht:

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Vorherige Photoberichte aus der Zone

Bericht 2008

Bericht 2009

Bericht 2010

Du kannst hier noch mehr Photos von der Reise TSCHERNOBYL 2010 ansehen.