KLEINE REAKTOREN

Vorwort

Polen, November 2010. Eigentlich hätte es die letzte Reise werden sollen. Dennoch dauerte es nur wenige Tage nach meiner Rückkehr, bis ich wieder Sehnsucht danach hatte. Nicht eine Minute verging, in der ich nicht an die Zone denken musste. An die leeren, verlassenen Städte und Dörfer, die Zeugnis ablegen von der Tragödie tausender ihrer Einwohner, die gezwungen waren, umzusiedeln. An die alten, bettelarmen Wiederansiedler, die trotz des Verbotes nach wie vor in der Sperrzone leben. Wer die Zone noch nie besucht hat, wird es nicht verstehen. Wer sie besucht hat, wird früher oder später wiederkehren wollen…

Lieber weniger, aber besser (V. Lenin)

Ukraine, Mai 2011. Der Checkpoint Dytiatky – Die Pforte zur Sperrzone. Unsere Pässe in Händen, warten wir auf unsere Transportmöglichkeit, während wir heimlich versuchen, ein paar Fotos zu schießen. Bis schließlich ein Wachmann unsere Pässe kontrolliert und sie mit den Zutrittsgenehmigungen vergleicht. Man fühlt eine merkwürdige Spannung in der Luft – stimmt irgendwas nicht, und sei es nur der allerkleinste Fehler inmitten des ganzen Papierkrams, endet unsere Reise hier. Dann, endlich, nickt der Wachmann sanft und öffnet völlig ohne Eile –fast wie zufällig- den Sperrbalken. Los geht’s! Von nun an drückt sich jeder in der Gruppe die Nase an den Scheiben des Fahrzeugs platt und saugt den Anblick der sich schnell verändernden Umgebung regelrecht in sich auf. Die schnurgerade Straße, flankiert von Reihen hoher Bäume, führt uns zu dem Ort, an dem wir die nächsten Tage verbringen werden. Auf dem Weg dorthin begegnen uns keinerlei Fahrzeuge, keine Menschen. Alles ist völlig leer. Nur die neu asphaltierte Straße mit ihren frisch aufgemalten weißen Streifen verrät die Anwesenheit von Menschen. Und sie führen uns an unser Ziel. Erst als wir die Stadt erreichen, erblicken wir die ersten Anzeichen von Leben. Nahezu ausnahmslos Männer, in militärischer Kleidung, ohne sichtbare Unterscheidungsmerkmale. Einer davon, die Zigarette in der Hand, inspiziert uns gewissenhaft. Immerhin sind wir in Chernobyl.
Nach einer Weile fahren wir am gerade renovierten Museumsgebäude vorbei. Vor wenigen Wochen war es noch eine typisch postsowjetische alte Ruine, in der man billigen ukrainischen Alkohol verkaufte. Nun symbolisieren die frisch an die Wand gemalten Störche das Wiedererwachen der Zone. Auf der anderen Straßenseite erstreckt sich ein riesiger Platz mitten auf der Allee mit zwei Reihen dicht gedrängter Kreuze. Auf jedem davon prangt der Name einer anderen Stadt, eines weiteren verlassenen Ortes. Jedes dieser Kreuze ist ein Symbol der Tragödie von hunderten, tausenden Einwohnern, die zur Umsiedlung gezwungen waren.

„Das ist alles nur für Medvedev und Yanukovich“, erklärt uns ein Fremder, als er seinen Zigarettenstummel zu Boden wirft. „Der ganze neue Asphalt wurde nur für den Besuch der beiden Präsidenten zum Jahrestag der Katastrophe gelegt. Die kamen, sahen sich um, machten allerlei Versprechungen, und das war’s. Wie jedes Mal.“
„Tatsächlich?“, heuchle ich Überraschung, während mir Bilder von Johannes Pauls dem II Besuch in Polen in den Sinn kamen, als man eigens die Fassaden der Gebäude entlang seiner Route renoviert hatte. Aus Mangel an Zeit und Geld meistens nur auf einer Seite.
„Natrürlich!“, lacht er bitter und zündet sich eine weitere Zigarette an. „Alle diese Veränderungen passieren nur für die Touristen, oder eher für deren Geld. Diesen April kamen so viele Touristen wie im gesamten Jahr davor. Und die EURO 2012 steht bevor, mit weiteren Hunderttausenden Touristen.“

Ich lasse mich nicht auf eine nähere Diskussion mit dem Fremden ein. Wir folgen weiter der nach frischem Asphalt riechenden Straße in Richtung Pripyat. Hoffentlich ist dort alles noch so wie es war.

Um die künstlerische Vorstellungskraft anzuregen

Das satte Grün des Grases und der Bäume, vereinzelte wilde Blumen, das Blau des Himmels. Überall hört man den Gesang der Vögel und das Flüstern der Bäume. Eingeschlagene Fenster, ausgerissene und zerbrochene Türen, und über alledem das völlige Fehlen jeglicher Art von Spuren der Anwesenheit von Menschen. Die allgegenwärtige und allmächtige Natur herrscht hier über allem. Befreit von der Überwachung durch den Menschen, kehrt sie zu ihrem natürlichen Zustand zurück. Sie beginnt, die Stadt zu besiegen, so wie es bereits dem kambodschanischen Tempel von Angkor Wat ergangen ist, der für Jahrhunderte vergessen worden war. Die ungewöhnlich hohen Bäume beginnen, die Sicht auf die Gebäude zu verdecken. Vegetation schlängelt sich langsam und verschlagen die Bauwerke hoch und bricht aus ihrem Inneren hervor, fordert unbarmherzig zurück, was ihr einst gehörte. Die Zeit ist der größte Feind dieser Stadt. Die reichlichen Niederschläge im Frühling beschleunigen diesen Prozess, und zerstörerische Feuchtigkeit vernichtet, was von den Dingen im Inneren der Gebäude noch übrig ist. Langsam, aber sicher, zerfällt die Stadt. Genau wie das radioaktive Cäsium, das man hier überall findet. Beide erreichen ihre Halbwertszeit.

Ebenso vergessen die Menschen langsam die Katastrophe und ihre dramatischen Auswirkungen. Mit jedem Jahr, das vergeht, verblasst das Gedenken an Chernobyl immer mehr, werden die Menschen der Erinnerungen beraubt, die sie noch daran haben. Menschen, die in die Armut und die Vergessenheit verschwinden, nehmen immer das Wertvollste mit, das sie besitzen: ihre Erinnerungen. Das letzte Zeugnis dieser Geschehnisse. Die einzige Hoffnung, sie für nachfolgende Generationen am Leben zu erhalten, ist inspirierende Musik, Kunst und Literatur zum Thema Chernobyl. Diese tragischen und gleichzeitig ungewöhnlichen Orte können zu einer Quelle der Inspiration und der Entdeckung für viele Künstler werden – Musiker, Fotografen, Filmemacher und Maler. Für jeden, der um der kommenden Generationen willen die Zeit anhalten will. Der sie vor der Vergessenheit bewahren will. Ich habe die Hoffnung, dass die Berichte über unsere Besuche zumindest ein klein Wenig dabei helfen können.

Katja Lindblom – „Der Marsch im April“ – 2011 – Akryl auf Leinwand

Katja Lindblom – „Manifest der Qual“ – Akryl auf Leinwand

Katja Lindblom – „Die Erinnerungen des Grigory Khmel“ – Bleistift

Katja Lindblom – Valery Bespalov – Bleistift

Katja Lindblom – Bioroboter – Filzstifte

Katja Lindblom – Ingenieure am Reaktor 4 – Filzstifte

Lenin lebt ewig

Details. Es sind tatsächlich die Details, die am wichtigsten sind. Von erstmaligen Besuchern der Zone werden sie oft übersehen. Es fehlt ihnen an der Zeit, die es erlauben würde, kurz innezuhalten, um nachzudenken und zu meditieren. Die ständige Eile hat zur Folge, dass sie oft willkürlich tausende von Fotos schießen, beim Versuch, mehr festzuhalten, als die Zeit erlaubt. In dem naiven Glauben, sie würden sich alles in Ruhe ansehen, wenn sie erst wieder nach Hause zurückkehren. Aber das ist nicht der Fall. Auf diese Art und Weise erleben sie diesen Ort ausschließlich als eine Ansammlung ausdrucksloser Bilder.

Wir wenden sehr viel Zeit dafür auf, die Geschichte und die Intention unserer Reiseziele und der dort vorgefundenen Objekte in Betracht zu ziehen. Erst das ermöglicht es, Details überhaupt wahrzunehmen. Dadurch wird es möglich, sie in den besuchten Orten und Gebäuden zu finden, ebenso wie in den Gesprächen mit den Bewohnern. Durch Letztere erhält man die Möglichkeit, die Dinge vor einem breiteren Hintergrund der Tragödie wahrzunehmen, ohne die das Leben der Bewohner einen völlig anderen Verlauf genommen hätte.

Ideologie. Ideologie, die einen immensen Einfluss nicht nur auf das Leben der Einwohner von Pripyat selbst hatte, oder der gesamten Sowjetunion, sondern auch auf Polen. Gemeint ist die Ideologie, die von Vladimir Lenin mitbegründet wurde. Seine Gedanken und Taten zur Abschaffung der Unterdrückung, der Klassenteilung und der sozialen Ausbeutung. Indem man soziale Kontrolle, Gemeinschaftsbesitz und eine gleichmäßige Verteilung des Reichtums einführte. Dank dieser Ideologie wurde Lenin bereits zu Lebzeiten zur Legende. Und so kehren wir nach Pripyat zurück.

Lenin ist der zahlreichste Einwohner von Pripyat. Er ist überall. Er blickt von Bildern, Gemälden und Zeichnungen an den Wänden aller Regierungs- und Kulturinstitutionen herab. Büros, Fabriken, Kinos, Theater, Schulen und Kindergärten. Fotografiert sowohl von Erwachsenen als auch von Kindern. Eine Figur, für die man Statuen baute, Lieder und Gedichte schrieb. Medaillen und Orden wurden in seinem Namen verliehen. Schulen, Plätze und sogar eine ganze Stadt nach ihm benannt. So überrascht es nicht, dass die Parteiführung nach Lenins Tod beschloss, sich seine Popularität und Autorität als Propagandaelement des kommunistischen Systems zunutze zu machen. So auch in Pripyat.

„V.I. Lenin. Schöpfer und Organisator der Roten Armee”

„Lenin”

„Unser Ziel – der Kommunismus”

„Sieger der sozialistischen Spiele – 1982”

„Ruhm der Arbeit – UdSSR”

„NEIN!”, „Sieg der UdSSR”

Wissenschaft, Kunst, Arbeit, Frieden.

Oben – „Wo die Partei ist, dort ist Erfolg, dort ist der Sieg!”. Unten – „Die Partei und der Komsomol – Einheit!”(Der Komsomol war die kommunistische Jugendorganisation in der UdSSR, Anm. d. Autors)

Die Zeit geht vorüber an den Orten, an die wir uns erinnern

Sogar ein freier Besuch der Zone führt auch dann nicht allzu weit, wenn man die Details betrachtet, ohne die Geschichte dieses Orts zu kennen. Nicht nur die Geschichte, die in Büchern zu lesen oder im TV zu sehen ist, sondern aus erster Hand: von Zeugen und Teilnehmern dieser Ereignisse. Nicht nur aus leicht manipulierbaren Statistiken oder einseitigen Berichten, sondern direkt aus Gesprächen mit Einwohnern und Arbeitern der Zone. Mit der Ärztin beispielsweise, die zu treffen und mit der zu sprechen wir die Gelegenheit haben, dank der Hilfe der Zonenverwaltung.

Galina Piatusova, 64. Zum Zeitpunkt der Katastrophe arbeitete sie in der Kinderklinik in Pripyat. Sie erfreut sich großen Respekts und ist noch immer beruflich aktiv bei der Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen an den Menschen, die in der Zone arbeiten. Alle haben Angst vor ihr. Schließlich hängt die Zukunft jedes einzelnen, der hier arbeitet, von ihrer Entscheidung ab. Das Fehlen einer Unterschrift des Arztes auf einem medizinischen Dokument bedeutet, dass man die Zone verlassen muss, seine Arbeit verliert, und mit ihr ein Gehalt, das weitaus höher ist als anderswo.

Ich fühle mich ein wenig unsicher, als ich sie das erste Mal sehe, wie sie auf uns im Krankenhaus von Chernobyl wartet. Ich weiß nicht, ob sie sich bereit erklären wird, mit uns nach Pripyat zu kommen, an den Ort, mit dem sie so verbunden war, wo sie die besten Jahre ihres Lebens verbracht hat. Ob sie sich wohl weigern wird, weil sie nicht will, dass die Erinnerung an die Ereignisse wiederkehren, die ihr so viel Kummer und Schmerzen bereitet haben.

Doch glücklicherweise steigt die Ärztin, ohne einen Augenblick zu zögern, ins Auto und beginnt sofort mit ihrer Geschichte. So spannend ist sie, dass ich nicht einmal bemerke, dass wir schon in Pripyat angekommen sind. Und wenn sie einmal angefangen hat, kann sie nichts mehr aufhalten. Erinnerungen und Bilder aus jenen Zeiten erwachen wieder zum Leben. Und unbewusst verleiten sie die Ärztin zu echten Bekenntnissen. Gefühle und Tränen, hervorgerufen durch die nach wie vor lebendigen Erinnerungen.

Gespräche mit der Ärztin – Krankenhaus in Pripyat

„Ich lebe hier”

Echte Tränen. Im Hintergrund: „Gepriesen seien die Frauen-Mütter, deren Liebe keine Grenzen kennt, deren Brust die gesamte Welt ernährt. – M. Gorky”

Galinas Geschichte lesen Sie HIER

Picknick am Straßenrand

Galinas Geschichte wird mir für eine lange Zeit in Erinnerung bleiben. Voller Emotionen, persönlicher Geständnisse und Details. So anders als die unbegreiflichen Ausdrücke und Zahlen, die emotionslosen Berichte der Wissenschaftler, die so oft nicht einmal den Ort der Katastrophe gesehen haben.

Unser zweites Treffen verläuft völlig anders. Zwei ukrainische Frauen, die wir zufällig treffen, willigen ein, uns den Kindergarten zu zeigen, in der die eine gearbeitet, und die Wohnung, in der die andere gelebt hat.

Niemand konnte jedoch ahnen, dass dieses scheinbar unschuldige Treffen zu einem Picknick an der Straßenseite werden soll. Als wir ein verlassenes Haus gefunden und erkundet haben, fördert eine der Damen, vielleicht als eine Geste der Freude oder zur Feier des Augenblicks, eine Glasflasche mit einer hellbraunen Flüssigkeit und eine kleine Plastiktüte zutage. „Jetzt geht die Party los!“, denke ich augenblicklich. Und ich sollte mich nicht irren. Die Flüssigkeit entpuppt sich als feuriger, selbstgebrannter Vodka, und in der Tüte finden sich Fleisch und Gemüsesnacks. „Das nenn ich echte ukrainische Gastfreundschaft!“, verkünde ich, als das erste Glas geleert ist.

Picknick am Straßenrand

Nachdem wir gemeinsam ein paar gekippt haben, sind wir bereit, den Kindergarten zu besuchen. Was mich am meisten bewegt, sind die Kinderspielsachen, die wir darin fínden – Plastikpuppen, Spielzeugautos und Teddybären. Regale voller Märchen neben kleinen Tischen, auf denen noch immer von Kinderhänden bemalte Malbücher herumliegen. Und Stifte, die überall herumliegen. Im Nebenzimmer, mehrere Dutzend alter rostiger Pritschen, auf denen die vom Spielen müden Kinder einen Mittagsschlaf halten konnten.

Der Kindergarten „goldener Hahn”

Du muss alles selbst herausfinden

Nach Spuren kommunistischer Ideologie und Propaganda zu suchen, und uns mit ehemaligen Bewohnern zu treffen, ist nicht das einzige Ziel dieser letzten Reise.

Das Postamt

Im Grunde handelt es sich hierbei um eine Telekommunikationszentrum direkt im Stadtkern, mit einem Postamt, Telefon- und Telegrafenverkehr und öffentlichen Telefonen. Es macht einen weniger interessanten Eindruck, aufgrund des völligen Fehlens jeglicher Gerätschaften oder Objekte. Von hunderten Eintagestouristen besucht, ist es effektiv von jeglichen interessanten Objekten „gereinigt“ worden. Alles was bleibt, sind tausende – oder genauer gesagt kiloweise – weniger interessanter Dokumente, Rechnungen und Blankoformularen. Altpapier.

„Möglicherweise liegt es genau daran, dass ich dort niemals etwas interessantes gefunden habe.“, denke ich bei meinem erneuten Besuch. Dieses Mal jedoch beschließe ich, etwas tiefer zu graben. Und es zahlt sich aus! Mit ein wenig Zeit und Mühe finde ich allerlei echte Kuriositäten; Objekte, die eigentlich schon lange verfallen sein sollten: völlig neue, saubere Postkarten! Sogar ganze Packungen davon. In Bündeln zu fünfzig Stück, sauber zusammengebunden mit einer Nylonschnur.

Linke Postkarte: „Ruhm dem Oktober Vaterland“. Rechts: „Ruhm dem großen Oktober -1917“

„Ruhm dem Oktober“

Postkarten: „Ruhm dem Oktober“ und „9. Mai – Tag des Sieges“

Wandgemälde im Inneren des Postamts.

Wenn Sie diesen Bericht lesen, werden die Karten mit Sicherheit nicht mehr dort sein. Sichtbar deponiert, sind sie unwiederbringlich verschwunden, in die Taschen hunderter Touristen…

Tag der Flagge

DUGA. Das Überhorizont-Radar, im Volksmund „Das Auge Moskaus“ genannt. Es ist nur sehr selten möglich, es ausführlich zu besuchen. Häufige Personalwechsel in der Verwaltung der Zone behindern das Erlangen der notwendigen Genehmigungen, oder machen es gleich völlig unmöglich. Ein neuer Verwalter der Zone bedeutet jedes Mal neue Regeln, neue Grenzen, und neue Gebühren. Höhere natürlich. Jedes Mal. Diesmal jedoch ist mir das Glück hold. Einem ehemaligen Arbeiter des Komplexes sei dank steht das Tor diesmal für uns offen. Dank seiner Hilfe beginnen der riesige Radarkomplex und die ihn umgebenden Gebäude in seinen Diensten, ihre Geheimnisse zu verraten.

„Krieg der Sterne“ – Das Hauptgebäude des Chernobyl-2-Komplexes

Verstreutes Radio- und Telekommunikations-Equipment.

Hauptsaal – Kontrollraum

Telekommunikationskabinen

Halle im Hauptgebäude

Eines dieser Geheimnisse ist die Zukunft dieses Radars. Es kursierten bereits Gerüchte, man würde die Antenne zum Zwecke des Altmetall-Handels auseinandernehmen. Unterhalb der Antenne selbst (der Kleineren) kann man abgesägte Teile des Gerüstes finden. Es machte den Eindruck, als würde dieses einzigartige Bauwerk in seiner wunderschönen Form für alle Zeiten verschwinden. Aber es stellte sich heraus, dass dies nicht der Fall sein würde. Zwei unabhängige Quellen haben bestätigt, dass das Radar verkauft worden ist (oder es zumindest jeden Moment werden würde). An die Japaner. Glücklicherweise nicht als Altmetall. Man hatte das gesamte Ding mit der Intention gekauft, eine Telekommunikationsantenne auf die Spitze zu setzen. Eine wahrlich lobenswerte Entscheidung! Endlich war entschieden worden, eines der interessantesten Bauwerke zu retten, das weltweit einzigartig ist.

Dieses Mal klettere ich wieder zum höchsten Punkt der Antenne, um endlich etwas aufzuhängen, das ich bereits bei den letzten paar Besuchen dabei gehabt hatte, in Erwartung eines günstigen Augenblicks. Bald wird die weiße Fahne mit der roten Sonne hier im Winde wehen….. Aber heute ist der Tag der polnischen Fahne.

Das Hissen der Flagge auf dem höchsten Punkt der Antenne.

Ein Moment des Innehaltens (und Ausruhens) auf der Spitze der Antenne.

Von unten gesehen

Eine ungewöhnlich komplizierte, aber wohlgeordnete Struktur.

Der Ruhm des Vaterlandes

Wer hätte gedacht, dass es möglich sein würde, einen Schießplatz in Pripyat zu finden, noch dazu im Keller einer Volksschule. Es stellt sich heraus, dass die Zone viele Geheimnisse hat, und nach wie vor zu überraschen vermag.

Aber der Schießplatz ist nur Teil eines ideologischen Ganzen, dessen übergeordneter Zweck sich erst nach Entdecken des Nebenraumes erschließt. Eine kleine Halle mit zwei Reihen dicht gedrängter Bänke, und an ihrem Ende, an der Wand, einer Tafel. Zu beiden Seiten flankiert von knallroten Propagandaplakaten. Dies ist die Halle, in der zivile Selbstverteidigung unterrichtet wurde. Die Halle, in der junge russische Patrioten herangebildet wurden.

Hier nahmen die Schüler der oberen Klassen an Unterrichtseinheiten in Zivilverteidigung teil, in Verteidigungsmethoden gegen militärische Bedrohungen und in Erster Hilfe. Auch Informationen über militärische Angelegenheiten waren Teil des Unterrichtsprogramms; Informationen über bestimmte Waffentypen, die Regeln der Kriegsführung und der Topographie. Und zum Zweck der praktischen Übungen – Schießübungen.

Hörsaal im Keller der Schule

Plakat „Ruhm der sowjetischen Nation“

Schießplatz – Schießscharten

Schießplatz

Musik ist eine Notwendigkeit der Nationen

Vladimir Lenin war überzeugt, dass Literatur und Kunst zu Unterrichtszwecken verwendet werden konnten, politisch wie ideologisch. Seine Nachfolger führten seine Arbeit fort, indem sie tausende sowjetische Talente mit rührender Fürsorglichkeit überschütteten – Dichter, Sänger, Schauspieler, Musiker und Maler. Man baute ihnen zahlreiche kulturelle Institutionen; so auch in Pripyat – Kulturhäuser, Musikschulen, Kinos und Theater. Die Auswirkungen kann man heute noch an den zahlreichen verlassenen Musikinstrumenten abschätzen, von denen die Größten am besten erhalten sind. Klaviere und Flügel. Groß und schwer. Sehr schwer zum Verkauf abzutransportieren, wurden sie zu wertlosen Objekten für Diebe.

Verstummt für 25 Jahre. Staubig, vergilbt, geben sie oft keinen Laut von sich. Der Zeit und der Feuchtigkeit überlassen, sind sie dem Verfall preisgegeben. Ich habe bereits mehrere Dutzend davon gefunden, und finde noch immer Neue. So auch dieses Mal, als ich beim Erkunden eines mir noch unbekannten Stadtteils über einen Laden stolpere. Einen Laden, wo einst Klaviere verkauft wurden.

Klavierhandlung – 15 Stück

Turbinenhalle

Die Blocks 5 und 6 des Kraftwerks habe ich bereits besucht, dachte ich. Deshalb will ich dieses Mal die umliegenden Gebäude inspizieren. Eines davon, das Größte, ist die Turbinenhalle. Mehrere hundert Meter lang, beherbergt es zwei Turbogeneratoren mit 500MW (Megawatt) Kapazität und jede Menge Hilfsmaschinerie. Im Inneren der Halle fällt die Temperatur auf der Stelle um ein gefühltes Dutzend Grad, und ich kann meinen Atem sehen. Die verstreut herumliegenden Tanks und Acetylenbrenner legen die Vermutung nahe, dass hier nicht sehr viel übrig geblieben ist. Ganz in der Nähe erklärt eine weiße Metalltafel: „Turbinenhalle. Energieblock Nr. 5 – Bauende Januar 1986“. Am anderen Ende der Halle liegen – noch in einem Stück – größere Maschinen, genauer gesagt ein Kondensator.

Turbinenhalle – Eingang

Dampfkondensator

Das nie fertig gebaute Kraftwerk ist das letzte Gebäude, das ich besuche. Das letzte, aber eines der Wichtigsten. Ohne das Kernkraftwerk hätte das nahe gelegene Pripyat mit seinen fünfzigtausend Einwohnern niemals existiert. Es wäre niemals zu dem Unglück gekommen, das 300.000 Bewohner der Zone zur Umsiedelung zwang.

Jede dieser Reisen lehrt mich Demut und Vorsicht in Bezug auf Kernenergie. Ich lerne, hinzusehen und mehr zu sehen, als man in Büchern lesen oder im TV sehen kann. Ich lerne echte Geschichte. Die Geschichte, die die Teilnehmer dieser Geschehnisse erzählen: Arbeiter, Liquidatoren und gewöhnliche Einwohner.

Jeder Trip ist eine Reise in eine mir unbekannte Vergangenheit. Eine Gelegenheit, neue Orte kennenzulernen, neue Menschen und neue Situationen. Eine Gelegenheit, mir eine fundierte Meinung zu bilden über die Auswirkungen der Katastrophe.

Noch nicht einmal jenseits der Zonengrenzen, weiß ich bereits, dass ich wieder hierher zurückkehren werde…

Nachwort

Fukushima, Japan, Juni 2011 – drei Monate nach dem Erdbeben und dem Tsunami.

Wie kommt es, dass die Katastrophe von Fukushima der von Chernobyl in keinster Weise ähnelt, wo doch die Auswirkungen fast identisch sind? Terabecquerel von radioaktivem Fallout, eine verseuchte und gesperrte 20km-Zone, Evakuierungen von Tausenden Menschen, Liquidatoren…. Und man spricht bereits über einen Sarkophag.

Und der Unterschied?

In Chernobyl gab es (und gibt es nach wie vor) ein Problem mit dem Kern eines Reaktors, in Fukushima waren es drei.

Man weiß bereits, dass sich viele der ehemals beschwichtigenden oder absichtlich irreführenden Informationen als unwahr herausgestellt haben. Wissenschaftler rudern im Angesicht der derzeitigen Geschehnisse und der verfügbaren Informationen stillschweigend zurück mit ihrer Angabe, die Katastrophe sei keine Bedrohung, die Reaktoren wären modern und die Kontamination gering. Sogar die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat bereits verlautbart, dass die Katastrophe in Fukushima mindestens so schlimm ist wie Chernobyl (was bedeutet, dass sie sogar schlimmer sein könnte).

Nur wenige Stunden nach der Katastrophe war es im Kern von Reaktor 1 bereits zu einer Kernschmelze gekommen, und die Reaktoren 2 und 3 folgten auf dem Fuße. In allen dreien führte dies zu einer riesigen Explosion, hauptsächlich durch Wasserstoff. Der Brennstoff in allen drei Reaktoren brannte sich durch die Stahlhülle der Druckbehälter und ergoss sich in das Containment (Schutzhülle). Man vermutet ein Leck in einem davon, was ein Entweichen des radioaktiven Materials ins Grundwasser und die Atmosphäre zu einer realen Bedrohung macht. Und als wäre das nicht genug, wurde in Reaktor 3 der MOX Brennstofftank (MOX Brennstoff ist wesentlich gefährlicher als der Uranbrennstoff, der in den anderen Reaktoren verwendet wird) beschädigt. Um eine Katastrophe abzuwenden, wurde die ganze Zeit Wasser hineingepumpt, um den geschmolzenen Brennstoff zu kühlen.

Aufgrund der Explosion, zahlreicher Lecks und unkontrollierter oder absichtlicher Emissionen wurde eine unglaubliche Menge radioaktiver Substanzen in die Atmosphäre freigesetzt. Vor einigen Tagen verdoppelte die japanische Atomsicherheitsbehörde ihre früheren Schätzungen der allein in der ersten Woche im Kernkraftwerk freigesetzten Menge an radioaktivem Material. Zugleich warnt sie, dass die derzeitigen Schätzungen eine breite Fehlermarge beinhalten. Viele Experten sind der Meinung, dass bis heute die Menge des freigesetzten radioaktiven Materials mit der von Chernobyl gleichgezogen, wenn nicht sogar diese übertroffen hat.

Die letzten Strahlenmessungen im Gebäude von Reaktor 1 zeigen ein noch nie dagewesenes Strahlungslevel in der Luft – 4 Sv/h. Radioaktive Isotope wie Caesium, Strontium und Plutonium findet man allerorts, manchmal dutzende Kilometer entfernt. In der Zwischenzeit hat man stählerne „Wasservorhänge“ installiert, um die Ausbreitung kontaminierten Wassers in den Pazifik einzudämmen.

Menschen wurden sogar von Orten außerhalb der 20km-Zone evakuiert, wo radioaktive „Hotspots“ entdeckt wurden. Den Japanern reicht es langsam. In Tokio und in ganz Japan gehen Zehntausende auf die Straße, um gegen die Kernenergie und die Passivität der japanischen Regierung im Angesicht der Katastrophe zu protestieren.

„Die Kernschmelzen in Fukushima haben uns einmal mehr gezeigt, dass Sicherheitsvorkehrungen niemals ausreichen werden, solange wir nicht in der Lage sind, alle Bedrohungen durch Naturkatastrophen, mangelhafte Technik und menschliches Versagen vorherzusagen.“ – Dies ist ein Zitat auf dem Umschlag des Films „Allein in der Zone” – welchen ich jedem empfehle, der nach einer Antwort für sich selbst sucht, ob es dieses Risiko wert ist.

Übrigens, der nächste Trip in die Zone – Details: arek (at) podniesinski (dot) pl

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