REAKTOR 4

Eine nicht sehr objektive Geschichte

Geschichtsunterricht mochte ich noch nie. Eine Stunde lang in monotonen, langweiligen Büchern lesen. Die Daten der wichtigsten Ereignisse pauken. Die subjektive Perspektive des Lehrers, des Autors der Lehrbücher, oder die subjektiven Kriterien des festgelegten Lehrplans. An deren Ende ein Zeugnis steht.

Daran hat sich bis heute nicht sehr viel geändert. Hier ist ein Beispiel: Der Autor eines Lehrbuchs für Mittelschüler (14- bis 16-Jährige) schrieb in einem „Radioaktivität und Strahlenschutz“ betitelten Buch, herausgegeben von der Nationalen Atomenergiebehörde, die Ereignisse in Chernobyl wären nur ein in die 7-Stufen-Skala der Nuklearunfälle (INES-Skala) fallender Unfall, in dem 42 Menschen zu Tode kamen. Lakonisch, zurückhaltend, beruhigend, oder? Was die Autoren vergessen, ist die Tatsache, dass Chernobyl laut INES nicht nur ein „Unfall“ war, sondern eine „umfangreiche Kernschmelze mit weitreichenden Folgen“. Dass der Unfall nicht nur gemäß der 7-Stufen-Skala klassifizierbar ist, sondern die höchste der sieben Stufen erreicht hat. Dass die Abschätzung der realen Anzahl der Opfer der Katastrophe sich nicht nur auf die 42 Menschen beschränken kann, die direkt an den Aufräumarbeiten des Unglücksorts beteiligt waren, sondern auch die tausenden Menschen einschließen muss, die an den Folgen der durch die Katastrophe ausgelösten Krankheiten verstorben sind. Mit keinem Wort haben die Autoren die eigentlichen Gründe des Unglücks erwähnt, die gesundheitlichen Langzeitfolgen, oder die Verschleierung der Informationen durch die UdSSR. Daher stimme ich der Sichtweise vieler Beurteilungen des betreffenden Lehrbuchs zu, dass es sich dabei um Propaganda und um Werbung für nukleare Energie handelt, anstatt Kindern verlässliches Wissen über die Welt um sie herum mit auf den Weg zu geben.

Demzufolge ziehe ich es vor, Geschichte durch Museumsbesuche zu erfahren, durch das Ansehen alter Dokumentarfilme, oder durch Berichte aus erster Hand von den Zeugen der Ereignisse. Es ist viel einfacher und angenehmer, die Information aufzunehmen, je näher man den Ereignissen ist. Es ist viel einfacher, sich eine Meinung zu bilden, ein breiteres und vollständigeres Bild der uns umgebenden Realität zu haben. Wahrscheinlich kommt daher auch meine Passion für das Tauchen in alten Schiffswracks. Viele Dutzende Meter unter der Wasseroberfläche gelegen, ist ein Schiffswrack nichts anderes als ein lebendes Museum. Noch dazu eines, in dem man alle Gegenstände problemlos berühren kann, ohne gleich strenge Blicke der Museumswächter zu kassieren. Meine letzten Tauchgänge in Narvik, zu Wracks aus dem zweiten Weltkrieg, haben mich über die Geschichte dieser Ereignisse wesentlich mehr und besser gelehrt als eine ganze Reihe von Unterrichtsstunden in der Schule.

Und genau so verhält es sich auch mit meinem letzten Trip in die Sperrzone von Chernobyl. Dieses Mal, dank spezieller Genehmigungen, die ich erhalten habe, habe ich die Möglichkeit, auf das Gelände von Block vier des Kernkraftwerks zu gelangen. Soll heißen: wo alles begann. Ich habe bereits versucht, eine zu erhalten, als ich letztes Jahr an dem Film Allein in der Zone arbeitete, doch leider ohne Erfolg. Dann, fast als Trost, erhielt ich eine Genehmigung, das Areal von Block 1 zu besuchen. Dieses Mal begannen die Versuche, an Genehmigungen zu kommen, bereits lange Zeit vor dem Trip. Dafür war die Zustimmung von drei Institutionen nötig: dem Ministerium für außergewöhnliche Angelegenheiten, dem Amt für internationale Zusammenarbeit und dem Direktor des Kernkraftwerks selbst. Davon hatte jeder das Recht, das Ansuchen abzulehnen, selbst wenn die anderen beiden ihre Zustimmung bereits gewährt hatten. Doch Sturheit und konstanten Druck auf die Sachbearbeiter und Dutzende von Telefonanrufen und Faxen zahlten sich schließlich aus. Zutrittsgenehmigung gewährt! Und zufällig war das Erlangen einer Bewilligung, mit meinem eigenen Fahrzeug anzureisen, ein Kinderspiel. Die Sperrzone ist der perfekte Ort, um ein Auto vor der nächsten Reise und dem letzten Projekt auszutesten. Doch das ist eine andere Geschichte.

Kernkraftwerk – Reaktor 4

Sofort nach Betreten des Verwaltungsgebäudes des nach – und wie könnte es anders sein – Vladimir Lenin benannten Kernkraftwerks, erhalte ich eine elektrische Identifizierungskarte, ohne die es nirgends möglich ist, hineinzukommen. Trotzdem ist es mir selbst mit dieser Macht ausgestattet nicht erlaubt, mich unabhängig auf dem Kraftwerksgelände zu bewegen. Dazu bedarf es der Begleitung eines Arbeiters des Kernkraftwerks, den man mir zur Seite gestellt hat. Das System funktioniert so, dass man zum Passieren jeglicher Türen oder Tore seine Karte auf einen Leser legt, wonach der Arbeiter mit seiner Karte dasselbe macht, und zusätzlich ein Passwort eingibt. Im ersten Stock befindet sich ein Gang, durch den man in das Verwaltungsgebäude des Kraftwerkkomplexes gelangt. Bereits vor dem Eintreten erhalte ich ein Set an weißer Kleidung und die Aufforderung, mich umzuziehen. Bei meinem früheren Besuch war eine weiße Schürze noch ausreichend, doch dieses Mal gibt man mir auch weiße Schuhe, Socken, Hosen, ein Shirt, Handschuhe und eine Maske. Alles deshalb, weil ich dieses Mal auch den Block vier besuchte, das Zentrum der Geschehnisse, wo sich am erhöhten Strahlenlevel bis heute wenig verändert hat.

Wo der Gang beginnt, gibt es eine weitere Tür. Wir zücken unsere Karten, der Arbeiter gibt sein Passwort ein. Am Ende des Ganges gibt es wieder Türen, an denen ein Telefon und eine Kamera hängen. Diesmal benutzt mein Wächter, abgesehen von der Karte und dem Passwort, auch noch einen Spezialschlüssel und ruft in der Sicherheitsabteilung des Kraftwerks an, die die Türen öffnen. Wir betreten eine Hochsicherheitszone. Die Sicherheitsvorschriften verbieten das Fotografieren auf dem Gelände des Kraftwerks, also muss die Beschreibung vieler Orte auf Worte beschränkt bleiben. Hinter den Türen gibt es einen weiteren Gang von über einem Kilometer Länge, entlang dessen sich alle Blöcke des Kraftwerks befinden. Nach einer Weile passiere ich nacheinander die Blöcke eins, zwei und drei. Ich machte einen Abstecher in den Kontrollraum des Ersten, um Fotos zu machen, die mir einen direkten Vergleich mit dem zerstörten Kontrollraum in Block vier ermöglichen sollen. Darinnen befinden sich mehrere Menschen, die sich auf ihre Arbeit konzentrieren, statt mich auch nur ansatzweise zu beachten. Hier habe ich vor einem Jahr den Direktor des Blocks für den Film Allein in der Zone interviewt.

Der goldene Korridor. Ein Gang von über ein Kilometer Länge, der sich entlang aller Blocks des Kraftwerks erstreckt. Klicken Sie auf das Bild, um seine genaue Lage auf Google Maps zu sehen.

Ein Besuch in Block eins.

Bevor ich das Areal von Block vier betrete, erhalte ich ein zweites Strahlenmessgerät, welches die Strahlendosis misst, die ich im Block vier abkriege. Im Vorbeigehen passiere ich eine Anzahl Matten mit desinfizierenden Substanzen. Direkt vor dem Eingang zu Block vier gehen wir ein weiteres Mal durch Türen, an denen wir die gesamte Sicherheitsprozedur erneut durchlaufen. Dann setzen wir unsere Masken auf und legen eine zusätzliche Schutzfolie für die Schuhe an. Das Erscheinungsbild von Block vier ist nach wie vor unverändert und gleicht somit dem von vor 25 Jahren aufs Haar. Freiliegende Rohre, Leitungen, derselbe Wandanstrich. Plötzlich erscheint ein Wachmann vor mir, der mir mit der Frage die Tür öffnet, wie viel Zeit ich im Kontrollraum benötigen werde. Ich habe bereits von einem anderen Arbeiter des Kraftwerks gehört, dass der Aufenthalt dort drinnen nur für wenige Minuten möglich ist, also antworte ich, fünf Minuten wären wohl ausreichend. Ich schalte die Kamera aus, den Blitz, und trete ein.

Kontrollgeräte von Block vier. Ein Klick auf das Bild führt zur exakten Position auf Google Maps

Auf der linken Seite eine neu erbaute Wand, die den Kontrollraum vom Reaktor trennt

1986 wurde an diesem Ort in den Nächten des 25. und 26. April ein Experiment durchgeführt, welches testen sollte, wie lange die kinetische Energie der auslaufenden Generatorenturbinen im Falle eines kompletten Stromausfalls ausreichen würde, um die Notfalls-Stromversorgung des Reaktors zu gewährleisten. Aufgrund einer unglücklichen Verkettung von Umständen, angefangen bei der mangelhaften Bauweise des Reaktors, über die unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen, bis hin zu den unerfahrenen Arbeitern, kam es zu einer Kernschmelze und der Explosion des Reaktors. Hier, an diesem Ort, nahm die Geschichte eine völlig neue Wendung. Heute ähnelt das Innenleben des Kontrollraums nur noch entfernt dem von vor 25 Jahren. Ein Großteil der Geräte, der Knöpfe, Anzeigen und Regler wurden bereits abgebaut. Der Raum fungierte als Ersatzteillager für die in Betrieb verbleibenden Blöcke des Kraftwerks. Stille, Dunkelheit, Staub. Dank meines vorherigen Besuchs im unzerstörten Block eins bin ich glücklicherweise mit den vorhandenen Gerätschaften und deren Funktion vertraut. Der Kontrolltafel gegenüberliegend erstreckt sich eine erst vor kurzem errichtete Betonwand, ein Anzeichen der Arbeiten an der neuen Schutzhülle. Bald schon wird der Kontrollraum ebenso verschwinden wie der Rest des Gebäudes, bedeckt von einem neuen, gigantischen Sarkophag. Die Bauarbeiten sind gerade in eine entscheidende Phase eingetreten. Auf dem Weg nach draußen geben wir die Strahlenmessgeräte zurück und entsorgen die Masken, Handschuhe und Schutzfolien für die Schuhe. Der Rückweg besteht aus noch mehr vorgeschriebenen Strahlenchecks, um sicherzugehen, dass wir nicht kontaminiert sind und unbeabsichtigt Strahlung nach draußen verschleppen.

Der vorschriftsmäßige Gang durch das Strahlenmessgerät

Draußen ist der Bau des neuen Abluftkamins das deutlichste Vorzeichen für die kommenden Veränderungen. Er wird den Alten ersetzen, mit seinen verblichenen roten und weißen Streifen. Seit der Katastrophe ist er zu einer Art visuellem Aushängeschild des Kraftwerkkomplexes und der gesamten Sperrzone geworden, und zu einem Symbol der Nuklearkatastrophe an sich. Derzeit kann man noch beide Kamine sehen. Bald wird der Alte endgültig verschwunden sein. Die Bauarbeiten des neuen Sarkophags treten gerade in eine entscheidende Phase ein.

Die Aussicht auf Block 3 und 4 vom Dach des fünften Blocks. Im Hintergrund Pripyat. Klicken Sie auf das Bild, um zu sehen, von wo es aufgenommen wurde.

Der nigelnagelneue Kamin

Der Besuch im Block 4 war der wichtigste, aber nicht der einzige Grund für meinen Besuch in der Zone. Der Zweite war, die Zone aus der Luft zu fotografieren. Der Spätherbst oder der beginnende Frühling sind die besten Gelegenheiten, um solche Fotos zu schießen. Die Gebäude sind aufgrund der fehlenden Belaubung der Bäume deutlich besser sichtbar. Es stimmt schon, dass nicht SO viele Genehmigungen nötig waren, um über die Zone fliegen zu dürfen, aber schlechte atmosphärische Bedingungen können dergleichen Plane wesentlich effektiver verhindern als jeder Bürokrat. Aufgrund von Nebel und tief hängenden Wolken war keiner der vier Tage für einen Flug geeignet. Am letzten Tag, als man nicht mehr länger warten kann, beschließe ich, das Risiko einzugehen und beordere den Helikopter zu mir. Nach etwa einer Stunde erschallte über Chernobyl das laute Geräusch eines darüber fliegenden Hubschraubers. Die Wolken hängen so tief, dass es nicht mal möglich ist, den Helikopter zu sehen. Aber zumindest hat es aufgehört zu regnen.

MI-2. Klicken Sie auf das Bild, um die genaue Lage des Landeplatzes zu sehen.

Ich fahre zu dem kleinen Militärflughafen, wo nach wenigen Augenblicken ein alter, klappriger MI-2 landet. Drinnen hat man eine Anzahl Batterien angeschlossen, die, so vermute ich zumindest, es ermöglichen sollten, das Ding wieder zu starten. Ich zögere einen Augenblick, aber dann denke ich, wenn ich schon so weit gekommen bin, werde ich es wohl noch ein klein wenig länger aushalten. Also bitte ich, die Tür zu entfernen, um besser fotografieren zu können und lege die Orte fest, die wir besuchen würden. Dabei handelt es sich um diejenigen aus dem vorliegenden Reisebericht, soll heißen: Chernobyl, Pripyat, Chernobyl-2, Rossocha und Buriakivka. Und los geht’s!

Hafen in Chernobyl. Die Wracks von Lastkähnen. Klicken Sie auf das Bild, um die genaue Lage auf Google Maps zu sehen.

Das Stadtzentrum von Pripyat. Das Kulturzentrum. Im Hintergrund der Vergnügungspark mit dem Riesenrad. Klicken Sie auf das Bild, um die genaue Lage auf Google Maps zu sehen.

Das Riesenrad

Die Fabrik „Jupiter“. Im Hintergrund Pripyat.



Pripyat und Chernobyl

Dieses Mal beschließe ich, mich bei meinem Besuch in Pripyat den selten besuchten Orten zu widmen. Ob es solche Orte im jedes Jahr von mehr und mehr Touristen besuchten Pripyat denn noch gibt? Jawohl, die gibt es. Keller. Die meisten der Wohngebäude verfügen zwar über keine Keller, aber die öffentlichen Gebäude, wie Schulen und Kindergärten, waren auf zusätzlichen Stauraum für unnütze oder nicht gebrauchte Möbel angewiesen. Die unterirdische Lage, das Fehlen von Fenstern und die völlige Dunkelheit behindern die zerstörerischen Auswirkungen von Mutter Natur, Touristen und Plünderern, sodass es immer noch möglich ist, dort eine ganze Menge interessanter und gut erhaltener Objekte zu finden.

Kindergarten. Kindergasmasken.

Kinderschlitten

Miniaturmodelle von Straßenschildern.

Im Keller stolpere ich unerwartet über zwei Welpen. Sie liegen regungslos auf dem Boden und sehen aus, als würden sie schlafen. Leider jedoch sind sie tot. Ihrem Zustand nach zu urteilen, können sie erst vor kurzem gestorben sein.


Ich muss nicht lange suchen, wo sie hergekommen sind. Im ersten Stock des Kindergartens, zwischen den metallen Kinderbetten, finde ich die Antwort.

Weil wir gerade bei der Dunkelheit waren: einen nächtlichen Besuch in Pripyat kann man sich nicht entgehen lassen. Ich habe Pripyat schon oft bei Tageslicht besucht, doch bisher noch nie bei Nacht. Ich bin neugierig.

Die Aussicht auf Pripyat und das Kernkraftwerk vom Dach des 16-stöckigen Gebäudes. Klicken Sie auf das Bild, um den genauen Ort zu sehen, von dem aus das Foto geschossen wurde.

Das Riesenrad bei Nacht.

Chernobyl-2 – Duga-3 Überhorizontradar

Traditionelle Radarsysteme arbeiten auf Sichtweite, was soviel heißt wie dass die natürliche Erdkrümmung ihre Reichweite im Grunde auf einige Hundert Meter beschränkt. Diese Art von Radar jedoch ist für die Frühwarnung vor einem Nuklearangriff seitens der Vereinigten Staaten aufgrund dieser unzureichenden Reichweite völlig ungeeignet. Gegen Ende der fünfziger Jahre begann die UdSSR mit den Bauarbeiten an einem Überhorizontradar, dessen Reichweite den Horizont bei weitem übersteigen sollte. Dieses System funktionierte auf Basis eines außergewöhnlich starken Signals, das in die Ionosphäre geschickt wird und, nachdem es von dieser reflektiert wird, sein Ziel weit jenseits des ursprünglichen Sichtfelds einer normalen Antenne erreicht (jenseits des Horizonts). Ein kleiner Teil des Signals kommt so zurück, wird von riesigen Antennenkomplexen aufgefangen und an hochentwickelte Computersysteme zur weiteren Analyse weitergeleitet.

Eine dieser Installationen wurde 1976 unweit Chernobyls in Betrieb genommen – die Duga-3 Radarstation. Sie ist nach wie vor eine der größten Antennen ihres Typs auf der ganzen Welt, und ihre Baukosten überstiegen die des nahe gelegenen Kernkraftwerks. Zu dieser Zeit war es das größte Projekt der UdSSR und bis heute ist es ein Meisterwerk der Maschinenbaukunst. Es unterlag von Anfang an der Geheimhaltung und wurde der Vermeidung unerwünschter Aufmerksamkeit halber als „Radiotelekommunikationszentrum“ betitelt. Hier arbeiteten so viele Menschen, dass man für sie eigens eine kleine Siedlung in der Nähe bauen musste.

Duga-3 im Nebel. Klicken Sie auf das Bild, um die genaue Position auf Google Maps zu sehen.

„Das „Krug“ Ionosphären-Kontroll-System. Klicken Sie auf das Bild, um die Position des Gebäudes auf Google Maps zu sehen.

Die Inbetriebnahme wurde unverzüglich von Radiosendern überall auf der Welt entdeckt, und zwar aufgrund der Tatsache, dass das von der Antenne ausgesandte Signal in der Lage war, Radio- und Fernsehübertragungen zu stören. Sogar die Kommunikation mit Langstrecken-Flugzeugen war betroffen. Die recht schnell lokalisierte Herkunft des Signals und sein charakteristischer Klang, der an einen Specht erinnerte, führte zu dem Spitznamen „Russian Woodpecker“ (Russischer Specht). Trotz zahlloser Proteste bestätigte die UdSSR anfangs nicht einmal, dass das Signal tatsächlich aus ihrem Hoheitsgebiet stammte. Erst aufgrund von Protesten einer großen Anzahl von Institutionen und ganzen Ländern gaben die Russen schließlich zu, Tests durchgeführt zu haben und kündigten Maßnahmen zur Reduzierung der Störungen an. Die ganze Welt fragte sich, wozu die Russen diese Tests wohl durchführten. Man vermutete den Test einer neuen Kommunikationsform, die das in Kriegszeiten unangenehm unzuverlässige Satellitensystem ablösen sollte. Andere vermuteten, man würde eine neue Form der Kommunikation mit U-Booten testen. Und natürlich kamen auch die üblichen Verschwörungstheorien zum Vorschein, die Russen würden an Werkzeugen zur Gedankenkontrolle arbeiten. Der gängigste Erklärungsversuch jedoch, und wie sich herausstellen sollte, auch derjenige, der der Wahrheit schlussendlich am nächsten kam, war ein Frühwarnsystem.

Anhaltende Störungen und die illegale Belegung von Frequenzen durch die Russen brachten die Amerikaner schließlich dazu, spezielle Geräte zur Unterdrückung der von der Antenne ausgehenden Störsignale zu bauen. Eine Gruppe amerikanischer Amateurfunker ging sogar so weit, die aktive Störung des Radars zu beschließen, indem sie auf derselben Frequenz ein Signal zurück sandten. Ihr Plan war es, das Radarecho zu blockieren, mit dem Ziel, die Russen zu einer Änderung ihrer Sendefrequenz zu zwingen. Sie nannten sich den „Russian Woodpecker Hunting Club“ (Club der Jäger des russischen Spechts) und bis heute gibt es ein Plakat, das von dieser Spontanaktion zeugt:

Der „Russian Woodpecker Hunting Club“

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Belastbare Informationen über das Radar zu finden, ist bis heute schwierig. Das ist der Grund, warum Informationen aus erster Hand, direkt von den Teilnehmern der betreffenden Ereignisse, so wertvoll ist, und nicht bloß irgendeine 08/15-Info. Vladimir Musiec ist der letzte Kommandant des Duga-3 Radarkomplexes. Vladimir begann seine Arbeit in der Anlage 1976, das heißt wenige Monate vor der Inbetriebnahme des Radars. Er begann ursprünglich als Personalreferent, und acht Jahre später wurde er zum Kommandanten der Anlage befördert. Diese Position hatte er bis zum August 1988 inne, also bis die Anlage geschlossen wurde. Er bestätigt, dass der Zweck des Radarsystems das Aufspüren von Raketen innerhalb der ersten 2-3 Minuten nach Abschuss war. Eine solche Rakete brauchte von den USA ca. 25-30 Minuten, was dem Kommandanten ausreichend Zeit verschaffte, die geeigneten Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Anders ausgedrückt: der damals bindenden Militärdoktrin konform, einen Vergeltungsschlag durchzuführen. Das Radar war für seine Zeit ausgesprochen modern, Digitaltechnik war darin bereits 1980 zur Anwendung gekommen. Zu keinem Zeitpunkt kam es jemals zu einem blinden Alarm bezüglich Raketenabschüssen. Im Gegenteil: die berühmten Ereignisse vom 26. September zeigten, dass die Tätigkeit der Antenne sogar einen weltweiten Nuklearkrieg verhindern konnte. Mehr darüber erfahren Sie HIER.

Am 26.04.1986 führte die Explosion im Kernkraftwerk zu einem unerwarteten, abrupten Ende des Radarbetriebs. Es wurde am nächsten Morgen außer Betrieb genommen, aus Angst, die radioaktive Luft könnte durch die Lüftungssysteme des Gebäudes eindringen und die Computer, sowie die restlichen elektronischen Gerätschaften darin beschädigen. Unglücklicherweise waren die eingeleiteten Maßnahmen leider zwecklos, und seither bliebt das Radar für immer stumm. Eineinhalb Jahre lang versuchte man immer und immer wieder, das Bauwerk zu dekontaminieren und wieder in Betrieb zu nehmen. Die Ergebnisse waren niederschmetternd.

Um zur Gegenwart zurückzukehren: der gesamte Radarkomplex ist ausgesprochen groß, bei einem Besuch hier alles zu erkunden, ist schlichtweg unmöglich. Diesmal besuche ich einige neue Orte.

Die Hauptkontrolltafel des Umspannwerks.

Der Verteilerraum

Die Ausstellungshalle. Im Hintergrund ein Modell des Globus, anhand dessen die Wirkungsweise und Funktionsprinzipien des Überhorizontradars erklärt werden konnten.

Riesige Ventilatoren? Ein Gebäude des Radarkomplexes, das ich erst identifizieren muss. Klicken Sie auf das Bild, um die genaue Position des Gebäudes auf Google Maps zu sehen.

Rossocha

Ich besuche den Fahrzeugfriedhof in Rossocha jedes Jahr. Das Layout des Abstellplatzes und seine Größe machten eine akkurate Schätzung, wie viele Fahrzeuge man hier abgestellt hatte, schon seit jeher schwierig. Doch dieses Mal ist nichts mehr übrig, das man schätzen hätte können. Abgesehen von einigen Helikoptern und einem runden Dutzend Bussen ist nichts mehr übrig. Vor ein paar Jahren waren hier noch über 1.500 Fahrzeuge abgestellt, die an der Beseitigung der Auswirkungen des Desasters beteiligt waren. Hunderte von LKWs, Busse, Feuerwehrwägen, Bulldozer, Militärfahrzeuge und Hubschrauber. Jetzt hat der Fahrzeugfriedhof schlichtweg aufgehört zu existieren. Wenn Sie auf das Bild klicken, sehen Sie Bilder aus der Zeit, als das Gelände noch voller Fahrzeuge war.

Der leere Fahrzeugfriedhof. Klicken Sie auf das Bild, um eine Ansicht des Geländes von vor einigen Jahren auf Google Maps zu sehen.

Sie müssen sich fragen, was mit den ganzen Fahrzeugen geschehen ist. Schließlich waren sie bis vor kurzem noch alle hier. Ich finde die Antwort erst, als ich das gesamte Gelände aus der Luft betrachten kann. An den Abstellplatz schließt ein großes Areal an, wo man derzeit die ganzen Fahrzeuge hinbringt. Dort führt man sie dann ihrem endgültigen Ende zu. In Stücke zerschnitten, sind sie einfacher zu transportieren und als Altmetall zu verkaufen. Die wertvollsten Ersatzteile jedoch waren bereits kurz nach der Katastrophe ausgebaut und auf Kiews Märkten verkauft worden, als sie noch höchstgradig radioaktiv waren. Die verbleibenden leeren Wracks sind lange nicht mehr so gefährlich und im Frühling werden sie alle für immer verschwinden. Aus der Nähe betrachtet sieht das ganze so aus:

Das Areal, wo die Fahrzeuge aus dem Schrottplatz in Rossocha gelagert werden. Im Hintergrund der Fahrzeugfriedhof von Rossocha. Klicken Sie auf das Bild, um das Areal auf Google Maps zu sehen.



Buriakivka

Buriakivka ist eine Endlagerstätte für radioaktiven Müll. Auf einer Fläche von etwa 100 Hektar besteht sie aus dreißig riesigen Gräben (150x50m), in denen radioaktiver Abfall aus der gesamten Zone vergraben wird. Von diesen dreißig Gräben sind bereits 28 voll und mit Erde bedeckt. Einer wird gerade befüllt, und nur einer ist noch frei. Die ersten drei Gräben wurden bereits 1986 gefüllt und enthalten hauptsächlich Dinge aus Pripyat: Möbel, Haushaltsgeräte, Waren aus Geschäften und sogar Wertsachen und Geld. Alles eingesammelt in einem Versuch, Plünderungen und das Entwenden radioaktiver Gegenstände aus der Stadt zu verhindern. Doch nicht alles ist begraben worden. Viele Maschinen, die bei der Beseitigung der Auswirkungen der Katastrophe eingesetzt wurden, waren so schwer verstrahlt, dass wie in Rossocha keiner wusste, wie man mit ihnen umgehen sollte, und so wurden sie einfach an der Seite des Schrottplatzes abgestellt. Dort gibt es bereits über fünfhundert von ihnen.

Der Schrottplatz in Buriakivka. Im Hintergrund ein weiter Landstrich, unter dem radioaktiver Abfall vergraben ist. Im unteren rechten Eck sehen Sie den Graben, in dem derzeit radioaktiver Müll vergraben wird. Klicken Sie auf das Bild, um das Gelände auf Google Maps zu sehen.


Auf dem Schrottplatz finde ich auch Wracks von MI-24 Militärhubschraubern. In der Sperrzone wurden auch Hubschrauber vom Typ MI-26, MI-6 und MI-8 verwendet, doch nur die MI-24 waren mit Spezialgeräten zur Messung der Strahlung in der Luft ausgestattet. Die Crew agierte in einem hermetisch abgeschlossenen Cockpit mit Spezialfiltern und einem Belüftungssystem. Sie flogen sehr oft tief und bei niedriger Geschwindigkeit über den Reaktor, um die Strahlungswerte an speziellen Kontrollpunkten zu messen.

Zwei Wracks von MI-24 Hubschraubern. Klicken Sie auf das Bild, um zu sehen, wie ein neuer MI-24 aussieht.

ALLEIN IN DER ZONE 2

Zum Abschluss muss ich noch meine vorhergehende Aussage korrigieren, dass es keinen zweiten Teil zu dem Film „Allein in der Zone“ geben wird. Nach über einem Jahr an Reisen und der Produktion von Allein in der Zone I war ich überzeugt, dass es nicht ausreichend neue und interessante Orte geben würde. Und nach mehrfachen Niederlagen bei dem Versuch, endlich eine Zutrittsgenehmigung für Block 4 zu erhalten, dachte ich, ich würde niemals in der Lage sein, diesen Ort zu zeigen. Und abgesehen davon sind zweite Teile in der Regel schlechter als die ersten Teile, also wozu die Fans von Allein I vor den Kopf stoßen?

Ich habe meine Meinung geändert. Bereits jetzt habe ich sehr viele neue, interessante Orte und unzählige Visionen und Ideen für Neue. Und ich verspreche, die Regel der zweiten Teile zu brechen. Aber Sie müssen sich gedulden, ich brauche noch mindestens zwei weitere Reisen in die Zone. Ich weiß allerdings schon, dass Allein 2 nur für diejenigen verfügbar sein wird, die bereits den ersten Teil besitzen. Dies soll ein Zeichen des Danks sein, denn der Erfolg des Films ist denjenigen zu verdanken, die ihn gekauft haben. Wenn Sie ihn noch nicht haben, sind Sie herzlich hierher eingeladen. Premiere ist in 2013.

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