VORWORT
Ist es nicht ein wenig seltsam, in Chernobyl Maiferien zu machen?, frage ich mich beim Überqueren der ukrainisch-polnischen Grenze. Zwölf Maitage in der Zone, und vier weitere erst letzten Monat. Die ukrainische Grenzwache, die mich aufhält, erinnert sich vielleicht an mich, ganz bestimmt jedoch an mein Auto. Trotz der seitenweisen roten Stempel in meinem Pass fragt er mich, wo ich denn hin will.
– Nach Chernobyl – spiele ich den Gelangweilten.
– Wozu? – erkundigt er sich.
– Ach, zur Erholung, um ein bisschen Iod einzuatmen – antworte ich, um seinen Humor auf die Probe zu stellen.
Und um ehrlich zu sein, ist es nichts als Gottes reine Wahrheit, dass ich mich entspannen werde. “Wahrheit”, weil die von Menschenhand seit Jahren unberührte Natur dort, wenn sie im Frühling zum Leben erwacht, einfach wunderschön ist. Abgesehen von den riesigen Moskitos. Und “Gott”, weil das orthodoxe Osterfest naht. Das Datum wird auf dieselbe Art und Weise festgelegt wie das katholische Ostern – der erste Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond. Das unterschiedliche Datum rührt daher, dass das orthodoxe Osterfest nach dem julianischen Kalender festgelegt und daher nicht vor dem fünften Mai gefeiert wird.
ES GIBT KEINE NICHTGLÄUBIGEN IN DER ZONE
Obwohl ich das katholische Osterfest seit langem schon nicht mehr feiere, hat Gott – derselbe in beiden Glaubensgemeinschaften – vermutlich nichts dagegen, wenn ich an der orthodoxen Version teilnehme. Unterm Strich gibt es ohnehin nicht sehr viele Unterschiede zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche, hauptsächlich was die Doktrin betrifft. Meiner Ansicht nach liegen die Unterschiede ganz woanders – eine orthodoxe Messe ist ein unglaublich spirituelles und emotionales Erlebnis. Reich dekorierte Gold-Ikonostasen (eine Wand mit drei Türen, bedeckt mit Ikonen), unglaubliche Ikonen, die formellen, reich dekorierten liturgischen Roben, der Geruch von Räucherwerk und hunderten brennenden Kerzen, und der ungewöhnliche Gesang. Genug, um einen dem Himmel ein Stück näher zu bringen. Jeder, der jemals eine orthodoxe Messe besucht hat, wird wissen, wovon ich spreche. Dies ist der Grund, warum ich mich um Punkt Mitternacht zur Ostermesse in die Kirche begebe.
Dort treffe ich eine Gruppe Menschen an, die Mehrheit davon Wiederansiedler: ältere Menschen, die ohne Genehmigung in die Zone zurückgekehrt sind; und Arbeiter aus dem nahe gelegenen Kernkraftwerk. In der Menge erkenne ich einen Messgerätetechniker und eine alte Frau, die ich letztes Jahr im Dorf Kupovate besucht habe. Sie alle singen. Der Ikonostase und einigen Ikonen gegenüber stehen Kerzenständer mit dutzenden brennenden Kerzen. Erlischt eine davon, wird sie durch eine neue ersetzt, die von unterschiedlichen Menschen gebracht werden. Ich zünde meine an. Immer wieder kommt der “Batiushka” (der orthodoxe Priester) mit Kreuz und Trikirion hinter der Ikonostase hervor, die den Altar vom inneren Kirchenschiff trennt, und füllt die Kirche mit dem Geruch von Weihrauch, während die Gläubigen Hristos Vokrese (Christus ist auferstanden) singen. Die nächsten Stunden sind erfüllt von Liturgie, Lobliedern, Gesang und Hymnen voller Glorie und Freude, deren Hauptthema die Auferstehung Christi darstellt. Erst am Morgen beginnt die Kirche langsam, sich zu leeren, verlassen mehr Menschen die Kirche, als hereinkommen. Wahrscheinlich ist dies das Ende der Messe, denke ich mir und gehe ebenfalls nach draußen. Entsprechend überrascht bin ich, dort hunderte von Menschen in einer langen Schlange rund um die Kirche stehend vorzufinden. Mit brennenden Kerzen zu ihren Füßen und dutzenden von Körben voller Bisquitkuchen (paska), Brot, Wein und Eiern. Alle warten darauf, dass die Gaben, die sie gebracht haben, gesegnet werden.
Der Morgen graut bereits, als plötzlich lautes Glockengeläut erschallt. Und wieder, und wieder. Ich nähere mich dem Ursprung dieses Klangs. Aus der Nähe kann ich nicht nur eine, sondern ein ganzes Set unterschiedlich großer Glocken erkennen. Darunter steht der für das Läuten Zuständige in einer dunklen Robe und bringt die Glocken gekonnt zum Schwingen, indem er an bis zu sieben Seilen gleichzeitig zieht. Jede davon spielt eine Rolle, doch erst alle zusammen verschmelzen zu einer Harmonie freudigen Feierns.
VERGESSENE KIRCHEN
Die Kirche von Chernobyl ist die einzige in der Zone, oder genauer gesagt die einzige noch in Gebrauch Befindliche. Die Sperrzone ist zu groß, und war früher auch zu dicht besiedelt, als dass die tausenden Gläubigen in eine einzige Kirche gepasst hätten. Wo also sind die anderen? Ich bitte einen älteren Einwohner der Zone um Hilfe und er gibt mir die Namen von verlassenen Dörfern, in denen ich Kirchen finden sollte. Es ist kein Zufall, dass er den Ausdruck “sollte” wählt, denn es ist bereits so viel Zeit seit dem Unglück vergangen, dass er nicht mit Gewissheit sagen kann, ob sie noch dort sein würden. Nun gut, eine Karte und GPS sollten ausreichend sein, um nachzusehen.
Die erste Kirche, dem neiligen Nikolaus geweiht, sollte sich im Süden der Zone befinden, im Dorf Zamoshnaya. Beim Versuch, dorthin zu gelangen, schleife ich den Wagen über völlig verlassene und überwucherte Straßen. Die dichten Zweige kratzen ständig an der Seite des Autos entlang, und beide Seitenspiegel sind seither aufgrund der Äste beschädigt. Erst als einer davon mich trifft und einen blutigen Streifen quer über mein Gesicht hinterlässt, schließe ich das Fenster. Das letzte Stück dauert am längsten, die dicken Äste und verstreuten Zweige zwingen mich dazu, den Wagen anzuhalten und sie aus dem Weg zu räumen, oder eine andere Route zu finden. Als ich endlich am Ziel ankomme, stellt sich heraus, dass nur noch die Grundmauern der Kirche übrig sind.
Doch erst als ich näher komme, fällt mir auf, dass das Dach auf einer Seite des Gebäudes noch intakt ist. Und in vereinzelten Fensterrahmen entdecke ich neu eingebaute Fenster. Weiß und aus Plastik, absolut nicht zum Rest passend. Fasziniert betrete ich das Gebäude. An seinem Ende entdecke ich eine Holzwand, die als primitive Ikonostase dient, und den Altar vom inneren Kirchenschiff trennt. Sie hat drei Türen. Die Mittlere, die Größte, ist verschlossen. Dies ist das heilige Tor, das nur der Batiushka durchschreiten darf. Links und rechts davon befinden sich das Nord- und das Südtor. Ich riskiere einen Blick ins Innere durch eines der beiden.
Es überrascht mich, hier noch orthodoxe Reliquien vorzufinden: Ikonen, Bilder, ein Kreuz und einen Kerzenständer. Alles deutet darauf hin, dass diese Kirche nicht vollständig verlassen ist, dass ihr von Zeit zu Zeit jemand einen Besuch abstattet. Höchstwahrscheinlich ehemalige oder derzeitige Einwohner der Sperrzone.
Die zweite Kirche, St. Michael, sollte ich im Dorf Krasne finden. Dies ist eines der abgelegensten Dörfer, im nördlichen Teil der Zone, nahe der Weißrussischen Grenze. Zum Glück ist die Straße in einem wesentlich besseren Zustand. Auf dem Weg dorthin passiere ich das Bauerndorf Zimovishche, in dem es noch eine verlassene Getreidemühle, Silos und verstreute landwirtschaftliche Gerätschaften gibt ‒ Mähdrescher, Sämaschinen und Pflüge.
Endlich in Krasne angekommen, kann ich die Kirche nicht finden. Für gewöhnlich befindet sich eine Kirche doch im Zentrum des Dorfes, an der Hauptstraße. Auf der Karte und dem GPS sieht es so aus, als hätte ich das Ende des Dorfs erreicht, und noch immer kann ich die Kirche nirgends ausmachen. Immerhin entdecke ich eine Statue, die der gefallenen Soldaten aus dem zweiten Weltkrieg gedenkt, Einwohnern des Dorfes. Davon findet man in so gut wie jedem Dorf eine. Es fällt sofort auf, dass ein Gutteil der auf der Steinplatte verewigten Soldaten denselben Familiennamen trugen. Der Krieg hat ganze Familien ausgelöscht.
Einige hundert Meter weiter taucht die Kirche dann endlich hinter den Bäumen auf. Sie ist riesig, sie zu übersehen is völlig unmöglich. Alleine und stolz steht sie an der Kreuzung, als würde sie auf die Rückkehr des Erlösers warten. Sie ist in hervorragendem Zustand, zumindest von außen. Mir fällt das Datum ihrer Erbauung auf: 1800. Erst das Innere verrät die schreckliche Wahrheit. Alle wertvollen Reliquien, Bilder und Schmuck wurden entfernt, höchstwahrscheinlich gestolen, den Spuren an den Wänden nach zu urteilen. Doch gewöhnliche Heiligenbilder, in billigen Holzrahmen, hängen noch immer an den Wänden der Kirche. Interessanterweise finde ich auch Anzeichen dafür, dass die Kirche nicht vollständig aufgegeben wurde. In der Mitte steht ein Altartisch – ein kleiner Tisch, neben einer Ikone, auf dem frische Eier und Brot stehen, Anzeichen für eine vor kurzem stattgefundene Osterfeier. Daneben liegen Karten mit den Gebeten und Wünschen der Gläubigen und frisch abgebrannte Kerzen. Und auf dem Boden neben dem Tisch fällt mir eine kleine Holzbox auf mit mehreren Banknoten, von Gläubigen hinterlassene Gaben, wahrscheinlich frühere Einwohner der umliegenden Dörfer.
Ich nutze die Gelegenheit, um auch gleich ein paar nahe gelegene Friedhöfe zu besuchen.
TAG DES SIEGES
Mein fast zweiwöchiger Aufenthalt in der Zone beinhaltet nicht nur das Osterwochenende. Einige Tage später wird der nächste Feiertag begangen – der Tag des Sieges. An diesem einen Tag ist die Sperrzone von Chernobyl für alle Ukrainer geöffnet. Auf diese Weise feiern die ukrainischen Behörden das Gedenken an das Ende des zweiten Weltkriegs. Tausende Ukrainer nutzen diese Gelegenheit, um die Orte zu besuchen, an denen sie früher gewohnt haben, oder wo ihre Lieben begraben sind. Man sieht ganze Familien auf Friedhöfen, die der Toten gedenken und ihre mitgebrachten Feiertagsmahlzeiten zu sich nehmen. Und natürlich – Alkohol. Sich an den Gräbern der Lieben zu treffen, in Kombination mit einer kleinen Mahlzeit und dem Hinterlassen von Speisen auf den Gräbern, ist ein unverzichtbarer Teil der österlichen Tradition, die Toten zu ehren. In dieser fröhlichen Zeit erfahren die Seelen der Toten die Freuden der Wiederauferstehung.
Der Tag des Sieges ist die beste Zeit, um frühere Einwohner der Zone zu treffen und ihre Geschichte zu erfahren, und die Geschichte der Orte, an denen sie gelebt haben. Im Stadtzentrum von Pripyat treffe ich eine Frau, die sehr stolz ist auf das, was sie erreicht hat – sie war dafür verantwortlich, den ersten Komsomol (kommunistische Jugendorganisation) in Pripyat aufzubauen. Am nächsten Tag hält mich ein Arzt auf, der mir, als er meine Kamera erblickt, erzählt, wie er die ersten verletzten Feuerwehrmänner am Tag des Unglücks ins Krankenhaus von Pripyat brachte. Er zeigt mir seinen Namen und seine Unterschrift auf der Dienstliste, die im Krankenhaus an der Wand hängt, sowie im Personalbuch im Raum daneben. Für mich ist es sehr schwer vorstellbar, wie sich so jemand fühlen muss, wenn er an den Ort zurückkehrt, an dem er gearbeitet und gelebt hat, eine Familie hatte und Kinder. Einen Ort, mit dem einst seine gesamte Zukunft untrennbar verbunden schien. Sein ganzes Leben.
Ich besuche auch Wiederansiedler, Einwohner der Zone, die zur Umsiedlung gezwungen, aber kurz nach der Katastrophe bereits wieder in ihre Häuser zurückgekehrt waren. Sie leben hier trotz ihres fortgeschrittenen Alters und der widrigen Umstände. Ich unterhalte mich unter anderem mit einem über achzig-jährigen Ehepaar, das in Nove Sheplichi lebt, nur ein paarhundert Meter nördlich von Pripyat. Diese beiden sind die letzten lebenden Einwohner der Zone, die ich so nahe am Kraftwerk gefunden habe. Unglücklicherweise wurde der kürzeste Weg in ihr Dorf, der quer durch Pripyat führt, recht bald nach dem Unglück absichtlich und endgültig mit einem Graben und einem Wall versperrt.
Man erreicht das Dorf ausschließlich von Westen her, indem man auf einige Kilometer alter, überwucherter Straßen ausweicht. Ich hatte vor einigen Monaten bereits versucht, dorthin zu gelangen, doch leider wurde das von einem heftigen Schneesturm, der die Ukraine heimsuchte, vereitelt. Es war völlig unmöglich, irgendeine Straße zu finden. Und glauben Sie mir, ich habe es versucht! Die Schneemassen, Drifts und natürlich das völlige Fehlen jeglicher Straßeninstandhaltungs- oder Schneeräumungsarbeiten. Allradantrieb, Differentialsperre usw… alles umsonst. Die Seilwinde, die ich in der Zone öfter verwendete als in einem halben Jahr in Afrika: ebenfalls umsonst. Bei solchen Schneemengen, überwucherten und nicht erkennbaren Straßen, sowie dem Fehlen jeglicher Spuren, war es einfach unmöglich, ein geeignetes Transportmittel zu finden.
Ich schaffe es erst im Frühling. Als ich das Dorf erreiche, stellt sich heraus, dass wir im Winter ganz in der Nähe des Hauses, in dem das Paar lebt, steckengeblieben waren. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters sind die beiden in überraschend guter Verfassung und machen einen glücklichen Eindruck. Von der Natur umgeben, die ihnen nicht nur Ruhe und Frieden, sondern auch Nahrung sichert. Danach gefragt, sind sie sich völlig einig, dass sie niemals Angst hatten, zu essen, was der nahe gelegene Wald an Pilzen und Beeren, und der Fluss an Fischen hergibt. Und sie stimmen überein, dass ihr guter Gesundheitszustand bedeutet, dass es hier keinerlei Strahlung gibt. Doch Pilze und Früchte aus dem Wald sind nicht die Hauptquelle ihrer Ernährung. Die beiden halten auch eigene Kühe und Hühner, und bis vor kurzem machte sich der Mann noch regelmäßig mit dem Fahrrad auf den Weg, um Besorgungen zu machen.
Allen, die sich für das Leben der früheren oder derzeitigen Einwohner der Sperrzone interessieren, empfehle ich den zweiten Teil des Films “Allein in der Zone”. Dieser enthält Interviews mit allen erwähnten Personen (und mehr).
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